Eigentlich sieht man nicht viel. Dutzende Menschen mit langen, schwarzen Haaren und dunkler Haut erscheinen aus dem peruanischen Amazonas-Dschungel und schlendern über den Strand, als wären sie eine Grossfamilie auf einem Sonntagsspaziergang. Sie tragen Stofffetzen um die Lenden, wedeln mit Pflanzenbüscheln, waten durchs Flusswasser, sammeln Speere ein, die sie in den Sand gesteckt haben.
Ob Frauen darunter sind, sieht man kaum, der Kameramann steht zu weit weg. So wie man es tut, wenn man ein wildes Tier aus der Ferne beobachtet. Und das ist wohl auch der Reiz: das Exotische. Die Bilder verbreiteten sich nach ihrer Veröffentlichung am 16. Juli wie ein Lauffeuer um den Erdball. Sie erinnern an das Stereotyp vom «edlen Wilden» von früher.
Diese Menschen gehören zum indigenen Volk der Mashco Piro. Seit mehr als 100 Jahren leben sie in mehreren Gruppen abgeschirmt von der Zivilisation. Wie viele Mitglieder das Volk zählt, ist unklar. Schätzungen gehen von bis zu 700 aus. Sie sammeln essbare Pflanzen und jagen mit Pfeil und Bogen Wildtiere.
Das riesige Gebiet im Manú-Nationalpark und jenes im Südosten Perus sind ihr Zuhause. Dort ziehen sie umher, bauen im Schutz des Regenwalds ihre Siedlungen immer wieder neu auf. Einige Jahre lang haben sie sich nicht mehr gezeigt. Nun wurde gleich eine ganze Gruppe von ihnen am Fluss in der Nähe des Dorfs Monte Salvado gesichtet. Und alle fragen sich: Warum?
Die Regenwald-Aktivisten von Survival International, die die Aufnahmen veröffentlicht haben, haben ihre eigene Theorie: pure Not. Holzfäller bedrohten ihren Lebensraum. Das mag für einige Amazonas-Gebiete stimmen. Ist das in diesem Fall die ganze Wahrheit? Gespräche mit Experten legen nahe: Man hat sie bei dem gefilmt, was sie öfter tun, dort, wo sie immer mal wieder hingehen. Dass sie jetzt aus dem Regenwald kommen, hat mit einem ganz bestimmten menschlichen Bedürfnis zu tun.
Ein Dokfilm und die wahren Hintergründe
Wir haben mit einem Mann gesprochen, der sich schon lange mit dem isolierten Volk beschäftigt: Carl Gierstorfer (49). Ebola, Aids, Covid, Ukraine-Krieg, Sklaverei in Nordkorea – seine Dokumentarfilme wurden vielfach ausgezeichnet. Für «Der Fluss, der uns trennt» reiste der Deutsche ab 2015 etliche Male in das Gebiet der Mashco Piro. Gierstorfer sagt, sie suchten von sich aus immer wieder den Kontakt zu anderen Menschen. «Sie sind wahnsinnig neugierig auf das Leben ausserhalb von ihrer Welt.»
Gierstorfer begleitete für seinen Film ein Team von Anthropologen und Indigenen aus dem Dorf Diamante. Dieses liegt im Manú-Nationalpark, am Fluss Madre de Dios – gegenüber dem Territorium der Mashco Piro. Die beiden gehörten einst zur gleichen Ethnie. Noch immer sprechen die Dorfbewohner ihre Sprache und tragen eine enorme Sehnsucht nach den «Nomole» – Brüdern – im Herzen. Die Sehnsucht, sich mit ihnen wiederzuvereinigen. Mit den Anthropologen zusammen betreiben sie im Auftrag des Staats ein Projekt zum Schutz der Mashco Piro. Das gemischte Team will Vertrauen aufbauen und paddelte in der Vergangenheit immer wieder über den Fluss, um sie zu treffen. Gierstorfer weiss: «Solche Begegnungen sind sehr gefährlich.»
Auch Shaco Flores zog diese Sehnsucht zu ihnen. Der indigene Bauer aus Diamante sah sich als Vermittler zwischen den Mashco Piro und den anderen Indigenen der Region, die in den Dörfern am Fluss leben. Er versorgte das scheue Volk mit Macheten, Töpfen und Kochbananen, die es im Dschungel nicht gibt, und lockte sie so immer wieder aus dem Wald. 2011 wollte er plötzlich keinen Kontakt mehr, wie ein Reporter des «New Yorker» später berichtete. Eines Nachmittags tauchten die Mashco Piro am Flussufer auf und winkten Flores zu. Doch er ignorierte sie. Eine Woche später stand er in seinem Garten. Plötzlich flog ein Pfeil aus dem Wald und durchbohrte seinen Oberkörper. Flores starb sofort. Er war nicht der Letzte. Drang jemand in ihr Territorium ein und kam ihnen zu nahe, töteten die Mashco Piro diese Person.
Eine Geschichte der Ausbeutung
Carl Gierstorfer sagt: «Für sie ist, wer von aussen kommt, böse.» Deshalb seien sie zwar neugierig, aber auch misstrauisch. Bei den Treffen, die er nur aus weiter Entfernung filmte, gaben die Mashco Piro gegenüber den Anthropologen kaum etwas von sich und ihrem Leben preis.
Weshalb – das zeigt ein Blick in die Geschichte, in die Zeit der industriellen Revolution. Sie veränderte das Leben der Indigenen in Südamerika. Als das Auto erfunden wurde, stieg der Bedarf an Wildkautschuk in der Welt. Er wird aus dem Saft eines Baums gewonnen, der im Regenwald von Peru, Kolumbien, Ecuador und Brasilien wächst. In den 1870er-Jahren begannen die «Caucheros» – wie man die Kautschukbarone nannte –, den Dschungel auszubeuten. Und die Indigenen, die darin lebten. Denn: Die Baumrinde muss von Hand angeritzt werden.
Der gefürchtetste Kautschukbaron war der Peruaner Carlos Fermín Fitzcarrald (1862–1897). Er war ein Mann mit grenzenlosem Ehrgeiz, der sich selbst zum «Rey del Caucho» krönte – dem Gummikönig Perus. Werner Herzog verewigte ihn 1982 im Film «Fitzcarraldo».
Der brasilianische Wissenschaftler Euclides da Cunha (1866–1909) beschrieb sein erstes Treffen mit dem Anführer der Mashco Piro. Fitzcarrald war 1892 mit bewaffneten Männern an den Fluss Madre de Dio gekommen, sein Ziel: Die Indigenen sollten für ihn arbeiten. Da Cunha schreibt im Buch «Um paraíso perdido»: «Die einzige Antwort des Mashco bestand darin, sich zu erkundigen, welche Pfeile Fitzcarrald bei sich trug.» Fitzcarrald lächelte und reichte ihm die Kugeln aus seinem Winchester-Gewehr. Der Mashco-Piro-Führer beäugte das Blei amüsiert. Dann nahm er einen seiner Pfeile, rammte ihn in seinen eigenen Arm und sah ungerührt zu, wie Blut aus der Wunde lief. Der Mashco Piro wähnte sich überlegen und kehrte in sein Dorf zurück. Da Cunha schreibt: «Eine halbe Stunde später lagen etwa 100 Mashcos, darunter ihr Häuptling, ermordet am Flussufer.» Die Täter: Fitzcarralds Männer.
Das Schicksal aller Indigenen der Region war besiegelt. Fortan mussten Männer, Frauen und Kinder Tag und Nacht Kautschuk schürfen. Ihr Leiden beschrieb 1910 der britisch-irische Diplomat Roger Casement (1864–1916), der ins Gebiet gereist war: «Diese Menschen werden nicht nur ermordet, ausgepeitscht, wie wilde Tiere angekettet, weit und breit gejagt, ihre Behausungen niedergebrannt, ihre Frauen vergewaltigt, ihre Kinder in die Sklaverei und Schande verschleppt, sondern sie werden auch schamlos betrogen.»
Einige der Mashco Piro hatten Glück. Sie konnten dem Grauen entkommen. Sie flohen tief in den Dschungel hinein. Brachen mit der Aussenwelt. Sie isolierten sich selbst. Doch sie verloren das Wissen darüber, wie man Gemüse und Früchte anbaut, wie man fischt, wie man sesshaft lebt. Die eingangs beschriebenen Mashco Piro sind ihre Nachfahren. Geblieben ist bis heute das Misstrauen. Und der Begriff «Kayokle» für die Menschen aus der Zivilisation. Übersetzt: schäbige sowie böse Menschen, die Kleidung tragen.
Die These, die wohl nicht stimmt
Die neusten Filmaufnahmen werfen nun Fragen auf. Warum zeigen sie sich wieder? Weshalb so lange nicht? Und stimmt das: Vertreibt die Abholzung sie aus dem Regenwald, wie die NGO Survival International medienwirksam behauptet?
Vor ein paar Tagen meldete sich der Anthropologe Maximiliano Mamani bei Gierstorfer, die Nachricht liegt uns vor. Mamani gehört zum Forscherteam, das der deutsche Dokumentarfilmer begleitete, und ist derzeit vor Ort. Er weiss: Das Gebiet um Monte Salvado im Südosten Perus, auf dem man die Mashco Piro vor kurzem gefilmt hat, gehört zu ihrem Lebensraum. In der Amazonas-Sommersaison stünden die Flüsse sehr niedrig. «Das ist die Zeit, in der die Mashco Piro dorthin kommen.» Dies sei Teil eines Zyklus: Sie verlassen die Tiefen des Walds, kommen in die Nähe der Dörfer, suchen den Dialog und kehren wieder in den Dschungel zurück. Auch diesmal haben sie mit den Dorfbewohnern gesprochen. Die Treffen seien Teil eines Annäherungs- und Beziehungsprozesses, schreibt er. Und: «Sie werden wieder auftauchen.»
Warum sie Kontakt wollen – dazu hat der Dokumentarfilmer Gierstorfer eine Vermutung. Er sagt: «Das alte Tabu bröckelt.» Zu den Treffen mit dem Forscherteam kamen immer die Jungen, die Alten blieben im Wald. Sie wollen, was die Jugend immer will: erkunden, Neues kennenlernen, Risiken eingehen. Bislang taten sie das über Menschen wie die Bewohner von Diamante und die Anthropologen. Wohlgesinnte. Die Treffen mit ihnen verliefen friedlich.
Vor allem, wenn Frauen im Forscherteam waren. Das entspannte die Atmosphäre. Einem «New Yorker»-Reporter berichtet 2015 eine Dorfbewohnerin, wie sich die Mashco-Piro-Frauen ihr vorsichtig genähert und an Brüste und Bauch gefasst hätten. Sie fragten sie, ob sie schwanger sei. Als sie verneinte, sagten sie im Scherz: «Du lügst.» Und eine Mutter spritzte der Dorfbewohnerin lachend Milch ins Gesicht, die sie aus ihrer Brust drückte – um zu sagen: «Ich habe welche.»
Bis 2020 trafen sich das Team und das Volk regelmässig. Dann war Schluss. Als die Pandemie Peru erfasste, paddelten die Forscher ein letztes Mal zu den Mashco Piro rüber. Sie klärten sie auf: Auf unserer Flussseite sind alle krank. Wir können nicht mehr zu euch kommen. Ihr nicht zu uns. Die Mashco Piro verstanden. Sie tauchten in die Tiefen des Dschungels ab. Zeigten sich lange nicht mehr. Dann fanden Anthropologen vergangenes Jahr erste Spuren von ihnen. Nun sind sie wieder da.
Den Film «Der Fluss, der uns trennt» findet man online auf www.srf.ch in der Rubrik SRF School.
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