Die Sonne strahlt an diesem Auffahrtswochenende, der Himmel ist nahezu wolkenlos, und der Rasen leuchtet saftig grün. Ein Brasilianer wischt sich den Schweiss von der Stirn und atmet tief durch, bevor er Anlauf holt. Im Strafraum warten seine Mitspieler und die griechischen Gegner ungeduldig auf den Ball. Mit dem Pfiff des Schiedsrichters spielt der junge Mann den Eckball im perfekten Bogen in den Strafraum. Das Publikum hält den Atem an, die Zeit scheint stillzustehen. Gleichzeitig springen Stürmer und Verteidiger in die Luft, und keinen Augenblick später liegt der Ball im Tor. Ein Spielzug wie aus dem Bilderbuch. Gewaltig ist der Jubel auf dem Sportplatz des Gesa-Areals in Altstätten SG. Neben dem FC Altstätten und dem FC St. Gallen sind auch internationale Teams angereist, um am U19-Turnier im Rheintal teilzunehmen.
Auch Stefan «Hasi» Hasler (68), ein alteingesessener Altstätter und ehemaliges OK-Mitglied des Turniers, ist vor Ort. Nur sieht er all das nicht. Weder den saftgrünen Rasen noch den perfekten Eckball noch die freudigen Gesichter der Spieler. Der leidenschaftliche Fussballfan sieht seit 16 Monaten gar nichts mehr.
Plötzlich blind
«Ich ging am Abend des 6. Januar 2023 ins Bett, und am nächsten Morgen war ich blind», erzählt er. Der 68-Jährige leidet an einer sehr seltenen Autoimmunerkrankung, die die Gefässe befällt und Sehstörungen mit sich bringen kann. Nach einer Woche im Spital und sechs Wochen in der Reha durfte er zwar wieder nach Hause. Doch auch dort ist nichts mehr wie vorher. Die Erkrankung bedeutet einen grossen Einschnitt in sein Leben. Sein Geschäft muss der Bauschreiner aufgeben. «Ich brauche viel Betreuung», sagt Hasler. «Alles hat sich erschwert.»
Auch für Stefan Haslers Familie ist sein Erblinden eine grosse Umstellung, wie seine Frau Annemarie Hasler (61) erzählt: «Vorher hat jeder sein Ding gemacht, jetzt müssen wir schauen, wie wir am besten zusammenarbeiten können, um Stefan, so gut es geht, zu unterstützen.» Durch sein Erblinden verliert Hasler aber nicht nur ein Stück weit seine Selbständigkeit, sondern auch eine seiner grössten Leidenschaften: den Fussball.
Griechischer Vorreiter
Doch wie es das Schicksal so will, sitzt Stefan Hasler heute trotzdem auf der Tribüne und verfolgt das Turnier mit – über Kopfhörer. Zu verdanken hat er das seinem Hausarzt. Haralampos Petridis (51) ist selbst leidenschaftlicher Fussballfan und stammt aus Griechenland. Als er im Frühjahr 2023 nach Athen reist und sich ein Fussballspiel ansieht, macht er eine Entdeckung: Seine Lieblingsmannschaft Olympiakos Piräus ist der erste Verein weltweit, der Blinden ermöglicht, Fussballspiele mittels Audiodeskription live im Stadion mitzuerleben. «Die Lancierung dieses Angebots war genau zu der Zeit, als Hasi erblindete», erzählt der Arzt.
Da Petridis auch Mannschaftsverantwortlicher des griechischen Teams am U19-Turnier in Altstätten ist, führt eins zum andern: Fasziniert vom Engagement seines Lieblingsvereins ruft der 51-Jährige gemeinsam mit einem OK-Mitglied des Turniers das Projekt «Blinde Fussballfreundschaft» ins Leben.
Von der Akropolis bis ins Fussballstadion
Im März 2024 ermöglicht Haslers Hausarzt ihm eine Reise nach Griechenland. «Ich stand ganz oben auf der Akropolis», erzählt er stolz. «Natürlich mit einem Guide.» Sein grösstes Highlight ist aber etwas ganz anderes: Der Altstätter kann endlich wieder ein Fussballspiel live im Stadion erleben. «Das war gigantisch. Wir waren zusammen mit den Reportern, die für mich live kommentierten, mitten im Stadion mit 27'000 Leuten», schwärmt er. Auch sein Arzt war berührt. «Es sind sehr emotionale Momente, für Hasi, aber auch für mich, zu sehen, was wir hier auf die Beine gestellt haben», sagt Petridis, der ebenfalls mitgereist war.
In Griechenland lernt Stefan Hasler Christos Koromilas kennen, der zu seinem ersten blinden Freund wird. Koromilas sitzt heute neben ihm in Altstätten auf der Tribüne. Beide lauschen mit ihren Kopfhörern dem Spiel. Koromilas auf Griechisch und Hasler auf Deutsch.
Fussball «schauen» für Blinde
Kommentiert wird das Turnier von der Organisation Blind Power, deren Reporter gleich neben den beiden Blinden sitzen. «Als ich mich über das Thema informierte, habe ich festgestellt, dass es in der Schweiz schon eine Organisation gibt, die Fussballspiele für Blinde überträgt», erklärt Petridis. Ihre Audiodeskriptionen von Super-League-Spielen sind online abrufbar. Erstmals sind die Kommentatoren gemeinsam mit den Blinden direkt vor Ort.
Kommentieren für Blinde ist aber nicht so simpel, wie es vielleicht tönt. «Für jemanden, der nicht sehen kann, ist es auch wichtig, zu wissen, was es für Wetter ist, wie der Rasen aussieht und welche Farben die Teams tragen», erklärt Marcel Rüegg (53), der seit vier Jahren bei Blind Power dabei ist. «Wir beschreiben auch, wo genau sich die Spieler befinden und ob der Ball hoch oder tief kommt. Die Schwierigkeit besteht darin, dass man in Verzug gerät, wenn man zu viel sagt.»
«Man hat schon einen Vorteil, wenn man sieht»
Stefan Hasler ist zwar froh, dass er so wieder Zugang zum Fussball hat, ganz leicht fällt ihm das Zuhören aber noch nicht: «Es ist schon eine grosse Umgewöhnung. Wenn das Spiel umstellt und ein Gegenangriff kommt, muss ich mich sehr konzentrieren, damit ich mitkomme.»
Während Stefan Hasler zuhört, versucht er, die Informationen im Kopf zu kombinieren.«Das muss ich, damit ich den Spielablauf überhaupt auf die Reihe bekomme. Da hat man schon einen Vorteil, wenn man sieht», sagt er und lacht.
Trotz seines Schicksals wirkt Stefan Hasler gelassen. In aller Ruhe sitzt er auf der Tribüne im Schatten der Sonnenschirme und lässt die Geräuschkulisse auf sich wirken. Stimmen erkennt er trotz des Lärms. Immer wieder kommen Bekannte und klopfen ihm auf die Schulter oder schütteln ihm die Hand. Alle freuen sich, den engagierten Fussballfan wieder am Turnier zu sehen.
Der Kontakt mit seinen Altstätter Freunden sei nach wie vor intakt, meint Hasler. Aber anders als Koromilas teilen sie sein Schicksal nicht. «Ich hätte gerne noch ein, zwei blinde Freunde mehr», gibt Hasler zu. Obwohl er sich inzwischen mit einem Blinden aus der Umgebung angefreundet habe, sei es sehr schwierig, Blinde überhaupt ausfindig zu machen.
Mehr Sensibilisierung in der Ärzteschaft
Auch Haralampos Petridis unterstützt seinen Patienten nach wie vor dabei. In diesem Bereich brauche es mehr Sensibilisierung bei Fachkräften im Gesundheitsbereich, sagt er: «Wir behandeln zwar die Krankheit, aber mit den sozialen Auswirkungen des Erblindens kennen wir uns nicht aus.» Deshalb hofft er, dass sein Projekt Nachahmer findet. «Das möchte ich Hasi und allen Blinden geben. Dass sie lernen, dass man trotz eines Handicaps Teil von etwas sein kann und es immer noch viele Möglichkeiten gibt, um Freude am Leben zu haben.»
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