«Nicht Schweizer, aber hier daheim»
Sie sind Egerkinger – und Kosovaren

Fast jeder zehnte Einwohner von Egerkingen SO ist Kosovare. Vier von ihnen erzählen, wie sie die Schweiz zu ihrer Heimat gemacht haben.
Publiziert: 22.07.2023 um 09:00 Uhr
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Aktualisiert: 22.07.2023 um 12:35 Uhr
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Lulzim Krasniqi (38) ist ein aktives Mitglied seiner Gemeinde: Er ist im Jagdverein, im Fischerverein und im Fussballklub dabei.
Foto: Thomas Meier
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Camilla AlaborRedaktorin

Egerkingen SO ist auf dem ersten Platz: In keiner anderen Schweizer Gemeinde leben anteilsmässig mehr Kosovarinnen und Kosovaren. 9,3 Prozent aller Einwohner Egerkingens haben den kosovarischen Pass – das ist Rekord.

Das Dorf ist ein Beispiel dafür, wie die Kosovaren nach über 30 Jahren in der Schweiz angekommen sind: wie sie widrigen Umständen getrotzt, Unternehmen aufgebaut und Wurzeln geschlagen haben. Vier von ihnen erzählen ihre Geschichte.

Lulzim Krasniqi (38), Geschäftsführer Dora Versicherungen

Foto: Thomas Meier

«Ich bin Mitglied im Fischereiverein, im Jagdverein und im FC – und verbringe darum fast mehr Zeit mit älteren Schweizern als mit Kosovaren. Auf das Jagen kam ich, als ich mit einem Freund in Sörenberg am Pilzsuchen war. Am Abend trafen wir auf zwei Jäger. Ich musste die natürlich fragen, wie das so läuft. Zurück in Egerkingen, begann ich die Ausbildung zum Jäger. Irgendwann kam raus, dass ich als Kosovare keine Waffe tragen darf. Ich dachte, das wars nun. Aber alle versuchten zu helfen: die Leute vom Jagdverein, die Polizei. Weil ich während der Ausbildung keine eigene Waffe besitzen durfte, kam mehrmals der Leiter mit, um mir seine Waffe zu leihen. Das war eine schöne Erfahrung.

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«Wir brauchten als Volk Zeit, uns einzuleben»
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Ich fühle mich nicht als Schweizer, aber bin hier daheim. Niemand hat etwas gegen einen, weil man Kosovare ist. Sondern, weil manche Kosovaren in der Vergangenheit Verhaltensweisen an den Tag legten, die den Schweizern nicht so passten. Dass man geschlegelt hat, statt Probleme mit Worten zu lösen. Wir brauchten als Volk etwas Zeit, uns in der Schweiz einzuleben. Wir haben auch eine sehr unterschiedliche Geschichte. In Kosovo war der Staat der Feind; es gab keine Sicherheit, sondern Unterdrückung. Für mich ist Integration etwas Positives: Ich darf an der Schweiz teilhaben, darf Mitglied in all diesen Vereinen sein. Ich finde es schön, sind so viele ursprüngliche Kosovaren in der Nati. Die Aufregung um die Doppeladler-Geschichte ist schade. Ich bin mir sicher: Wenn die Schweizer die Geschichte der Kosovaren besser kennen würden, würden sie sich weniger darüber aufregen. Es ist nun mal eine sehr emotionale Geschichte zwischen Serbien und dem Kosovo.»

Hana Demiri (41), Besitzerin Kita Sunshine

Foto: Thomas Meier

«Ich war 16 Jahre alt, als ich in die Schweiz kam. Direkt aus dem Krieg. Die Ankunft war schwierig. Wir waren sechs Kinder; ein zusätzliches Schuljahr konnten wir uns nicht leisten.

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«Sie zerriss mein Formular und warf es in den Papierkorb»
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Also ging ich aufs RAV. Ich hoffte, dass ich eine Ausbildung machen könnte. Doch die RAV-Mitarbeiterin zerriss mein ausgefülltes Anmeldeformular und warf es in den Papierkorb. Warum sie das getan hat, habe ich bis heute nicht verstanden. Aber ihre Botschaft war klar: Du hast in diesem Land nichts zu suchen. Ich durfte lediglich während zehn Wochen einen Deutschkurs besuchen. Die Sprache habe ich gelernt, indem ich die Hausaufgaben meiner jüngeren Geschwister nachmachte. Mit 17 Jahren fing ich an, in einer Wäscherei zu arbeiten. Dort blieb ich die nächsten elf Jahre. Zu kündigen traute ich mich nicht – ich hatte ja keine Ausbildung, ich hatte nichts. Später wechselte ich in eine Uhrenfabrik und zog daneben mit meinem Mann drei Kinder gross. 2018 konnte ich zum ersten Mal einen Kurs machen, zur Spielgruppen-Leiterin. Da wurde mir klar: Ich möchte etwas Eigenes auf die Beine stellen. Mein Traum war es immer, Lehrerin zu werden. Da begleitet man die Kinder bei den ersten Schritten in ihrem Leben. Nun habe ich eine Kita eröffnet, die Kita Sunshine. Wenn ich die Kinder betreue, bin ich fast wie eine kleine Lehrerin: Jene Kinder aus Ungarn oder Bosnien, die mit zweieinhalb Jahren zu uns kamen und nichts verstanden, sprechen jetzt Deutsch. Das ist ein schönes Gefühl.»

Ismail Krasniqi (67), pensioniert

Foto: Thomas Meier

«In Pristina hatte ich Jura studiert. Viele meiner Kollegen wurden verhaftet, andere vom Regime getötet. Ich liess das Studium fallen und kam 1989 als Saisonnier in die Schweiz. Plötzlich war ich auf einem Bauernhof, verstand die Sprache kaum, meine Familie fehlte mir. Während drei Monaten machte ich einen Deutschkurs. Er kostete 408 Franken. Zum Weitermachen hatte ich kein Geld. Aber die Bauernfamilie war gut zu mir.

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«Die Schweiz ist gut zu mir gewesen»
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1995 kamen meine Frau und die Kinder in die Schweiz. Die ersten zehn Jahre dachte ich: Noch ein Jahr vielleicht, dann kehre ich zurück. Das Leben hat eine andere Richtung genommen. Meine Kinder gingen hier zur Schule, meine Enkelkinder sind hier. 2005 haben wir uns ein Haus gekauft. Die SVP-Kampagnen gegen Kosovaren? Davon habe ich nichts mitbekommen. Ich schaue, dass es meiner Familie gut geht, das ist das Wichtigste. Wir haben immer gearbeitet, haben nie Probleme gemacht. Ich bin froh, bin ich hierhergekommen. Hier gibt es kein ‹Du bist Albaner, du darfst diese Ausbildung nicht machen›, so wie damals im Kosovo. Heute sind Albaner Ärzte, Ingenieure. Sie haben alle Rechte. Ich danke der Schweiz, sie ist gut zu mir gewesen.»

Artana Tahiri (30), Primarlehrerin

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«Meine Herkunft war kein Thema»
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«Ich bin in Kreuzlingen aufgewachsen, an der Grenze zu Deutschland. Wir hatten immer viele Nationalitäten in unserer Klasse. Meine Herkunft – meine Mutter ist Kosovarin, mein Vater Albaner aus Mazedonien – war deshalb nie ein Thema. Als ich eine Stelle als Primarlehrerin suchte, machte ich mir zuerst Sorgen: Ich habe keinen Schweizer Pass. Aber die Schulleiterin, die mich angestellt hat, sah in meiner Herkunft sogar etwas Positives. Das hat mir viel bedeutet, dass man mich als Person akzeptiert. Bei der Einbürgerung hatte ich dieses Gefühl nicht. Damals war ich 18 Jahre alt, noch in der Lehre, und wollte mich in Kreuzlingen einbürgern lassen. Ich sagte mir: Ich bin hier geboren und aufgewachsen, ich fühle mich auch als Schweizerin, warum sollte ich nicht die gleichen Rechte haben wie alle anderen? Der schriftliche Teil und die mündliche Prüfung waren kein Problem. Aber es gab eine zweite Fragerunde der Gemeinde, das waren vielleicht ein Dutzend Leute. Sie stellten Fragen wie: Wie füllt man einen Wahlzettel aus? Ich wusste die Antwort nicht – ich konnte ja noch gar nie wählen. Daran scheiterte meine Einbürgerung. Für mich war es ein Schock. Rekurs einlegen mochte ich nicht. Ich war traurig und enttäuscht. Ich finde, es braucht keine Einbürgerungstests für Kinder, die hier geboren sind. Aber vielleicht kommt irgendwann der Punkt, an dem ich es nochmals probiere.»

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