Wer aufs Schloss Tarasp GR geladen wird, zieht lieber bequeme Schuhe an: Das letzte Stück ist steil und führt über Pflastersteine. Wenn der Unterengadiner Künstler Not Vital (75) Hof hält, kommen sie alle. Es ist eine bunte Schar von Kunstinteressierten, die sich im prachtvollen Salon aneinanderdrängt. Neben einer Frau mit Dreadlocks und Bergschuhen sitzt eine Dame im blühend weissen Sommerkleid mit Chanel-Tasche.
Gekommen sind sie zur Vernissage des Buches «Not Vital: Sculpture» von der Kuratorin und Autorin Alma Zevi (35). Für das Buch hat sie den Künstler zehn Jahre lang begleitet. Es ist eine persönliche Reise, die durch das Schaffen von Not Vital führt, von New York über Italien bis hin nach Niger, China, Lateinamerika und Südostasien – überallhin, wo der Nomade ein Stück künstlerische Heimat mit auffallenden Architekturprojekten erschaffen hat. «Ich wusste schon sehr früh, dass ich von hier weg muss», sagt Not Vital, der in Sent GR aufgewachsen ist. «Damals war man hier noch sehr isoliert, wie in einem eigenen Land mit einer eigenen Sprache, dem Rätoromanischen.»
Vom Bubentraum zur grossen Kunst
Seine Bubenträume verwirklicht Not Vital bis heute. Als Nomade ist sein Atelier überall auf dem Globus. Er hat es zum wichtigsten Künstler des Engadins gebracht, zum Künstler mit Weltformat: Seine Werke kosten bis zu 900'000 Franken.
Erst Zeichnen, Malen, Bildhauen. Ab den 2000er-Jahren dann wurde die Architektur immer wichtiger: «Scarch» nennt Vital den Mix aus Skulptur und Architektur. Vitals Werke wurden an renommierten Orten wie dem Guggenheim-Museum, dem MoMA in New York oder der Biennale in Venedig ausgestellt. 2018 ehrt ihn das Bündner Kunstmuseum mit einer Werkschau, im Mai 2022 bekommt er den Bündner Kulturpreis.
Not Vital klingt wie ein Kunstname, doch er ist echt und seit Generationen in der Familie. Seit 700 Jahren sind die Vitals in Sent zu Hause und im Sägerei- und Holzgeschäft tätig. Dass viele Bewohner das Tal verlassen haben, sei normal, erzählt Not. «Wir sind Randulis, also Schwalben, die in die Welt ziehen, aber immer wieder heimkommen.»
Er erinnert sich gut an seine frühe Kindheit und an den vielen Schnee. In diesen hat er als Kind Tunnel gegraben: «Obwohl es kälter war als zu Hause, bin ich den ganzen Tag darin geblieben.» Später realisierte er, dass es sein erstes Habitat war, das er gebaut hatte.
Der Park «Parkin Not dal Mot» in Sent, in dem heute Vitals Skulpturen stehen, war früher sein riesiger Spielplatz: «In den monatelangen Sommerferien lebten wir praktisch dort und gestalteten unsere eigene Welt.» Damals ist er auf Bäume geklettert, um den Sonnenuntergang zu sehen: «Hier bei uns dauern sie ewig. Anders in Afrika, dort geht es dramatisch schnell. Und in Rio wird applaudiert, wenn die Sonne am Horizont verschwindet.» Inzwischen baut er Häuser, die nur dafür da sind, um eine möglichst unverstellte Sicht auf den Sonnenuntergang zu haben. Das erste «House to Watch the Sunset» ist in Niger entstanden, inzwischen gibt es auch eines in Brasilien und in Tarasp.
Narrenfreiheit als Künstler
Einfach war es nicht, die Baubewilligung für den 13 Meter hohen Turm zu bekommen – wegen der frei stehenden Treppen. Weil das Geländer fehlt, ist der Turm jetzt eingezäunt. Not Vital ist einer, der normalerweise ohne Sicherheitsnetz arbeitet: «Wenn man auf der Bühne steht und weiss, dass man fallen könnte, ist man viel präsenter und damit besser.» In unserem Land sei vieles zu einfach: «Es gibt kaum Gefahren, man kann schlafend durchs Leben wandeln. Das ist in Brasilien ganz anders – darum brauchen wir etwas, was uns aufweckt.»
Seine Schaffenszeit begann für Not Vital in New York, wo er 1978 als 30-Jähriger am Broadway ein Studio kaufte – damals für 29'000 US-Dollar. Schon in dieser Zeit reiste er viel, vor allem in Indien und Ägypten: In Kairo kam es zur ersten Konfrontation mit einem Kamel. «Es bringt dich durch die Wüste, aus seiner Kacke macht man Feuer, und es trägt einen Berg mit sich herum.» Seither tauchen die Wüstentiere immer wieder als Skulpturen auf. Vital mag sie: «In Afrika hatte ich immer drei bis vier Kamele, ich gab ihnen die Namen meiner Brüder, so hatte ich immer meine Familie um mich.»
Weltweit begehrt
Urs Meile (69), einer seiner Galeristen, sagt: «Not Vital ist ein typisches Beispiel von einem, der auszog und im Ausland zu Ruhm und Anerkennung kommt.» Meile kennt den Künstler seit Jahrzehnten. 2008 hat er die erste Ausstellung mit Not Vital in Peking organisiert: «Seine Werke sind weltweit begehrt, und es gibt auch in der Schweiz einen grossen Sammlerkreis.» Aber obwohl seine Kunst durchaus ein breites Publikum anspricht, ist er in seiner Heimat vielen nicht bekannt. Das beginnt sich laut Meile seit den letzten paar Jahren zu ändern.
Volkstanz trifft auf Kunst
Denn seinen globalen Erfolg bringt Vital als «Schwalbe» wieder zurück ins Nest ins Unterengadin. Für 7,9 Millionen Franken hat er 2016 das Schloss Tarasp erworben, das er als Kulturattraktion neu belebt. In seinem nahe gelegenen Heimatdorf Sent steht sein Atelierhaus, und in Ardez GR ist eine Stiftung für romanische Schriften entstanden. Im ehemaligen Heuschober des traditionellen Engadinerhauses von 1642 lädt der Künstler nach der Vernissage des Buches zum traditionellen Ball. Dieser ist inspiriert durch die Babania, einen Volkstanz nach altem Brauch, bei dem die Dorfjugend in roter Tracht zusammenkommt. «Normalerweise feiert man das nur einmal im Jahr, am ersten Samstag im Januar», erklärt Not Vital. Ausnahmsweise wird sie zur Einweihung des Tanzpavillons für einmal im August gefeiert. Getanzt wird unter dem «Roten Rock». Die neuste Skulptur von Not Vital spannt sich wie ein Schirm über die Tanzpaare, die sich im Kreis drehen.
«Keiner versteht es wie er, das Globale und Lokale, das Moderne und Traditionelle zusammenzubringen. Not ist ein Vermittler», sagt Meile, der in Ardez mittlerweile auch eine Pop-up-Galerie führt. Zwischen den scharlachroten Trachten sieht man schon bald die Vernissage-Gäste mittanzen, einige der Damen haben sich für den «Ball» extra umgezogen. Der Apéro besteht aus Bier, das im Dorfbrunnen gekühlt wird. Daran stört sich niemand, ganz im Gegenteil. Not Vital sitzt am Rand und beobachtet das Geschehen. Nicht wie der König vom Schloss, vielmehr wie sein eigener Hofnarr, zufrieden mit dem Spektakel, das er herbeigezaubert hat – bis er in seinen Bentley steigt und in seine nächste Weltheimat davonkurvt.
«Not Vital: Sculpture» von Alma Zevi, im Verlag Skira / Thames & Hudson.