Eigentlich machen sie nichts. Sie sitzen und fixieren ihren Blick ins Leere. Atmen tun sie noch, aber das war es schon – und trotzdem feiern sie sich. Einige junge Männer haben auf Social Media ihre Berufung gefunden: «Rawdogging», so nennt sich das neue Phänomen, das auf Tiktok, Instagram und Co. gerade im Trend ist, und meint, Alltagssituationen ohne Ablenkungen zu erleben.
Hört sich vielversprechend an und erinnert an Praktiken aus der Achtsamkeit, wo es darum geht, den Moment bewusst wahrzunehmen. Das sagt auch die Holistic Coachin für Führungskräfte Heidi Hauer (43) gegenüber Blick. Sie kennt sich mit gesundheitsfördernden Ritualen aus: «Es ist gut, wenn man sich für bestimmte Aufgaben ein Zeitfenster offen hält und ohne Ablenkung rangeht.»
Wer am längsten nichts tut, gewinnt
«Rawdogging» hat nicht viel mit Achtsamkeit zu tun, wie ein Instagram-Post des Schweizer Influencers und Comedian Adrian Vogt (25) zeigt. Dabei sieht man in einer Zeitrafferaufnahme, wie er während eines 1,5-stündigen Fluges ausdruckslos in die Kamera schaut, ohne sich jemals zu bewegen. Zwar wirkt er fokussiert, aber ziemlich angestrengt.
«Rawdogging» wird vor allem als Challenge verstanden und findet zahlreiche Nachahmer. Allen voran junge Männer messen sich in den sozialen Medien darin, wer es am längsten mit Nichtstun aushalten kann. Darüber ist die Coachin wenig überrascht. Sie hat eine Vermutung: «Junge Männer sind für Herausforderungen, in denen sie sich messen können, recht empfänglich.»
Weg vom Multitasking – hin zur Reizabstinenz
Ein paar Minuten im Alltag komplett abschalten und seinen Gedanken Freiraum gewähren, sei grundsätzlich gut für die Psyche, sagt Hauer: «Das Gehirn kann sich dabei erholen und es gibt Platz für kreative Einfälle.»
Wird das Ganze aber zur Challenge und auf die Spitze getrieben, gehe der Nutzen verloren: «Als Herausforderung ist es sicher amüsant, aber ich sehe keine Vorteile, wenn man nur regungslos rumsitzt», sagt Hauer. Als Alternative dazu empfiehlt sie Meditation.
Aber das wird hier nicht gemacht. Stattdessen gehen einige sogar so weit, sich den Toilettengang zu verweigern. Dazu die Coachin: «Das ist nicht ratsam. Auf die Bedürfnisse des Körpers sollte man hören.»
«Rawdogging» ist die Antwort auf das Multitasking, also mehrere Sachen gleichzeitig zu machen. Hauer hat Verständnis für den Gegentrend: «Die Reizüberflutung hat wegen Social Media stark zugenommen. Viele Leute sind davon erschöpft.» Ob «Rawdogging» auch die Antwort auf die zunehmende Reizüberflutung ist, bezweifelt die Coachin allerdings.