Das ESC-Publikum in Malmö singt mit Nemo (24) mit – der Auftritt ist perfekt gelungen. Zu Hause vor dem Fernseher summen manche die Melodie von «The Code». Überrascht und berührt hören wir, wie Land um Land die magischen 12 Punkte an Switzerland vergibt. Ein warmes Gefühl breitet sich in der Brust aus. Ist es die Freude an Nemo? Oder auch Stolz auf unser Land, das gerade den grössten Musikwettbewerb der Welt mit 200 Millionen Zuschauenden gewonnen hat?
Demonstrativer Patriotismus
Mit Nationalstolz tut man sich in der Schweiz schwer, zumindest, ihn mit geschwellter Brust offen zu zeigen. Dafür ist man hierzulande zu bescheiden. Auch wer Erfolg hat, hängt das nicht an die grosse Glocke. Und das Schwingen von rot-weissen Fahnen ordnen viele der politischen Rechten zu, Bünzlis im Schrebergarten oder demonstrativem Patriotismus auf dem Rütli.
Das ändert sich gerade mit Nemo Mettlers Auftritt für unser Land und mit dem ESC-Sieg. Da schwenkt plötzlich auch ein queeres, urbanes, linkes Publikum Schweizer Fähnlein, da spült eine Welle der Euphorie patriotische Heimatgefühle bis in die wokste WG.
Allerdings bringt nicht erst Nemos Sieg Bewegung in das Thema Nationalstolz. Eine GFS-Studie aus dem Jahr 2004 zeigte schon damals, dass der Begriff Patriotismus nicht mehr allein der politischen Rechten gehört. Mehr als die Hälfte der Befragten und insbesondere die jüngere Generation wertete Patriotismus als etwas Positives. Darin zeigt sich der Stolz auf unsere typischen Werte: zuverlässig, qualitätsbewusst, fleissig. Damit haben wir es als kleine Nation ohne Bodenschätze oder kleiner Landwirtschaft zu wirtschaftlichem Erfolg gebracht.
Statt bünzlig plötzlich hip
Was einst als bünzlig galt, war plötzlich hip. In den 90er-Jahren kamen T-Shirts mit Schweizerkreuz in Mode, die rot-weissen Fähnli wurden am Nationalfeiertag auch auf urbanen Dachterrassen gehisst – und wer erinnert sich noch an Jordi-Uhren mit Kühen und Kreuz drauf, die damals Kult waren? In einen Flieger mit Schweizer Flagge oder Edelweiss auf der Heckflosse steigen wir mit mehr Vertrauen ein. Schwingfeste wurden zum «Place to be», am Eidgenössischen drängelte sich die Prominenz und zog Städterinnen und Städter an. Spätestens als sich Beat Schlatter (63) im Film «Hoselupf – oder wie man ein Böser wird» 2011 ins Sägemehl stürzte, entdeckte man einen neuen Stolz für unsere Schweizer Traditionen und Werte.
Das Grounding der heimischen Airline Swissair von 2001 hat uns tief in unserer Identität getroffen. Genauso wie jetzt der Sieg von Nemo im Herzen guttut. Nemo bringt neue Qualitäten ins Scheinwerferlicht, die nicht typisch schweizerisch sind: kreativ, extrovertiert und schrill. Zugleich ist Nemo fleissig, bescheiden und bodenständig. Nemo öffnet also den Fächer für eine breitere und buntere Identifikation des Schweizer Wertesystems. Zugleich zeigt sich der Kantönligeist: Sind das nun Schweizer Tugenden oder ist das etwa nur typisch Biel? Dank Nemo gilt die Stadt jetzt als Nabel der helvetischen Kreativität.
Mit Nationalstolz Probleme überspielen
Dabei stellt sich die Frage: Darf man überhaupt stolz sein auf etwas, das man nicht selber vollbracht hat? Die Frage geht an Jakob Tanner (73), einen der renommiertesten Historiker des Landes. «Nemo hat allen Grund, stolz auf die eigene Leistung zu sein und auch auf das, was damit für nicht binäre Menschen erreicht wurde», sagt der emeritierte Professor, der den ESC und Nemos Sieg ebenfalls verfolgt hat. «Der ESC ist ein transnationales Ereignis und ein Anlass für die Schweiz, auf Europa zuzugehen.»
Auf kollektiver Ebene hat Nationalstolz eine Ambivalenz. «Stolz steht sowohl für die edle Gesinnung als auch den Hochmut», erklärt Tanner. «Im katholischen Kontext ist das Superbia, eine der sieben Todsünden.» Wird Stolz zur Überheblichkeit, so behindert er die gesellschaftliche Lernfähigkeit, und das ist laut Tanner heikel: «Etwa wenn man mit Nationalstolz Probleme überspielt. In diesem Fall die Rechte der non-binären Bevölkerung.»
Dank des Siegs von Nemo identifiziert sich die grosse Masse mit einer Minderheit. Eine Minderheit, die man zuvor nicht so ganz wahrgenommen hat. Nemo ist eine von ein paar 10'000 non-binären Personen in der Schweiz. «Der Bundesrat hat sich 2022 gegen die Gleichstellung von nicht binären Menschen ausgesprochen – entgegen den Empfehlungen der Nationalen Ethikkommission», so Tanner. «Statt einfach nur stolz zu sein, sollte man jetzt auf die Rechtsgleichheit in einer freien Gesellschaft pochen.» Tanner sagt, die Schweiz sollte den Schwung, den Nemos Sieg ausgelöst hat, für eine gute Lösung für non-binäre Personen nutzen. «Sonst klingt der nationale Stolz hohl.»
ESC im Vergleich zu Fussball
Den kollektiven Nationalstolz kennen wir am besten vom Fussball. Man darf Flagge zeigen und sich mit seiner Mannschaft identifizieren. Die emeritierte HSG-Professorin Yvette Sánchez (66) ist seit Jahrzehnten Expertin für Fussball und Integration. Wegen Nemo interessiert sie sich nun auch für den ESC und vergleicht die Dynamik des grössten Musikwettbewerbs mit dem populären Sport: «Einerseits wird Diversität zelebriert, zugleich herrscht ein ausgeprägter Nationalstolz. Darin steckt eine Ambivalenz, man kommt zusammen, konkurrenziert sich jedoch gleichzeitig. Und beides wird für politische Zwecke genutzt.»
Sánchez ist in Venezuela geboren und in Basel aufgewachsen, sie sagt: «In der Schweiz ist man durchaus stolz, aber man zeigt es nicht so wie in anderen Ländern.» Laut einer Studie der Universität Chicago sei in Venezuela der Nationalstolz am grössten, in Deutschland am kleinsten. Und auch die Schweiz und Schweden bewegen sich in der unteren Hälfte der Skala. «Bei Deutschland hat das mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu tun. Da war Stolz lange nicht mehr möglich. Erst bei der WM 2006 in Deutschland durfte man es erstmals wieder wagen, sich in die eigene Flagge zu hüllen.»
In der Schweiz sei Zurückhaltung und Diskretion eine wichtige Qualität und Teil unserer Werte. Auch Protzen sei hierzulande nicht beliebt. «Nemo zeigt nicht nur eine hohe Begabung und Reflexion, sondern auch eine tiefe Dankbarkeit. Diese Eigenschaften machen viel sympathischer als Stolz, obwohl Nemo allen Grund dazu hätte.»
Was für Sánchez im Gegensatz zum Fussball beim ESC-Sieg gefehlt hat, ist das ausgelassene Feiern. «In Biel wurde nachts noch gefeiert. Aber bereits am nächsten Morgen ging in den Medien alles ganz schnell back to business. Also, wo findet der ESC statt, wer moderiert ihn.» Auch das sei in der Schweiz zu beobachten: «Man ist praktisch und pragmatisch. Ich finde, man hätte wenigstens 24 Stunden stolz im Sieg schwelgen können.»