Ich bin nackt, mir sind die Augen verbunden und es schneit. Es muss 22 Uhr sein, vielleicht sogar schon Mitternacht. Es sind bestimmt schon 24 Stunden vergangen, seit man mir mein Handy, meine Uhr, meinen Schlaf und meinen Namen genommen hat: Ich bin nicht mehr Amit Juillard, sondern «rosa Bär».
Mindestens genauso lange bin ich nun schon gezwungen, mich von Nüssen und Trockenfrüchten zu ernähren. Ich klammere mich an die Hand des nackten Mannes vor mir und ziehe an der Hand des nackten Mannes hinter mir. Ich zittere vor Kälte. Der Mond scheint im Herzen eines Waldes im Waadtland am 23. März.
Der Kampf gegen den Macho
Willkommen beim «New Warrior Training Adventure», einem Kurs über die «heilige Männlichkeit», dessen genaue Inhalte geheim bleiben sollen und der von den Übergangsriten der amerikanischen Ureinwohner inspiriert ist. Ziel dieser 48 Stunden ist es, «sich das eigene Leben als Mann wieder anzueignen» und «die Essenz der männlichen Energie wiederzufinden».
Die Organisation dahinter heisst Mankind Project (MKP) und kommt aus den USA. Sie fördert eine «integrative und frauenfreundliche Männlichkeit und bekämpft alle Karikaturen des Männlichen». Dem Macho soll also entgegengewirkt werden, indem Männern geholfen wird, ihre Gefühle, ihre Macht und ihre Verletzlichkeit voll auszuleben. In Frankreich steht Mankind Project wegen sektenähnlicher Aktivitäten in der Kritik.
«Beeil dich, die Männer warten!»
Bei meiner Ankunft fühle ich mich wie im Militär: Es beginnt beim Aussteigen aus dem Auto: «Ruhe bewahren, 30 Meter Abstand zueinanderhalten.» Wenig später in unserer Hütte heisst es: «Lege deine Sachen ab, sei still und schau in den Wald.»
Im Inneren der Hütte herrscht Halbdunkel. Die Wangen der Männer aus dem grossen Betreuungsteam sind schwarz bemalt. «Schau mich an. Wie ist dein Name?!? Du bist jetzt Nummer drei!» Ich versuche, ruhig zu bleiben und sie anzulächeln. Aber ich hasse sie. Und ich habe Angst. Druck. Einschüchterung.
«Beeil dich, die Männer warten.» Ein Satz, der einem in den nächsten langen Stunden immer wieder eingehämmert wird. Dann kommt der Moment der Durchsuchung. Tasche umgedreht, Beine gespreizt. Ein Mann tastet mich ab, während ein anderer Mann – das Wort «Mann» wird ständig wiederholt – mich fixiert und mich zwingt, seinem Blick standzuhalten.
Toxische Männlichkeit vs. heilige Männlichkeit
Wir bekommen alle einen Talisman und ein farbiges Halstuch. «Verbindet eure Augen damit!» Von draussen hört man Trommeln und Schreie. Blind werden wir geführt, bis man uns auf ein Kissen am Boden setzt. Plötzlich ist es still. Wir dürfen die Augenbinde abnehmen.
Auf einem Podium vor uns steht einer der Anführer. In seiner Hand hält er ein langes Holzstück, das mit ein paar bunten Bändern verziert ist. Er erklärt uns, dass es dieses Wochenende um unsere Schatten geht, diese dunklen, verborgenen, tief in uns vergrabenen Abgründe, denen wir nicht ins Gesicht sehen können, nicht ins Gesicht sehen wollen. Das klingt sehr nach Selbsthilfe.
Ein anderer Betreuer ergreift das Wort. Er spricht über die Auswirkungen toxischer Männlichkeit, die hier der heiligen Männlichkeit gegenübergestellt wird. Er nennt Mandela, Robert Badinter, Simone Veil, Martin Luther King und Harvey Milk als Vorbilder, denen man folgen sollte, weil sie mit ihren Emotionen verbunden waren. In den kommenden Stunden wird er mehrmals genau diese Rede halten. Alles ist standardisiert.
Vor einer ersten Pause, um Wasser zu trinken und «Samen» zu essen, gibt es noch einige Sicherheits- und Verhaltensregeln: keinen Sex. Weder allein noch mit anderen. «Wenn ihr auf die Toilette gehen wollt, dann nur in Anwesenheit eines Mitarbeiters und mit unserer Erlaubnis.»
Um mich herum sind andere Teilnehmer. Sie sind zwischen 20 und 60 Jahre alt. Alle sind weiss. Ich weiss es noch nicht, aber ich werde eine emotionale Bindung zu dieser Gruppe, ihren Verwundbarkeiten und Verletzungen aufbauen. Es gibt Familienväter, Rentner vielleicht, Singles, Start-up-Gründer und Finanzleute. Andere arbeiten auf dem Bau oder sind Therapeuten. Alle haben etwas mit sich selbst oder mit ihrem Umfeld zu klären. Nur wenige sind hier, um «männlicher» zu werden.
Rosa Bär
Bevor ich mich am Abend nach einer Gruppenübung im Wald auf die Luftmatratze lege, die neben meinen neuen Kameraden auf dem Boden liegt, muss ich daran denken, dass ich heute auch meinen Status inmitten eines Kreises von Männern geändert habe. «Du warst Nummer drei, jetzt bist du rosa Bär, rosa Bär, rosa Bär!» Es steht sogar auf meiner Brust, auf einem Stück Malerklebeband.
Der Weckruf am nächsten Morgen ist heftig: Trommeln und Jaulen samt kalter Dusche für alle. Der Nächste zählt für mich die Sekunden: Ich muss 60 Sekunden darunter bleiben. Seife gibt es keine.
«Beeilt euch, Männer, die Männer warten.» Ehrlich gesagt, ich kann diesen Mist nicht mehr hören. Es muss fünf Uhr morgens sein und ich habe weniger als zwei Stunden geschlafen. Sorry, Nelson Mandela und Robert Badinter: Ich verliere die Beherrschung, ich bin am Ende, ich bin deprimiert. Aber ich bin ruhig. Um dieses Artikels willen.
Die Heldenreise
Dann folgt ein vorgeschriebener Moment des Austauschs. Wir sitzen im Kreis und jeder hat eine Minute Zeit, um «seine Wahrheit zu sagen». Das ist der «Morgen-Check-in». Ich sage alles, was mir durch den Kopf geht, und zwar ungefiltert. Die Mehrheit meiner Mitstreiter hat es schwer. Bisher haben nicht viele von ihnen die 680 Franken, die das Wochenende kostet, gerne ausgegeben.
Während einer Phase des Schweigemarschs im Freien gibt ein junger Typ auf. Nach einer langen Diskussion mit mehreren Betreuern nimmt er seine Sachen und geht ohne Abschied.
Es ist ungefähr zwölf Uhr mittags und wir stehen kurz vor dem Höhepunkt der Expedition: der «Heldenreise». Drei grosse runde Teppiche liegen für uns bereit, um «alle Farben zu sehen». Das Prinzip ist einfach, möglicherweise verstörend oder befreiend: Jeder muss sich vor seinen Kollegen 20 Minuten lang mit seinem eigenen Schatten auseinandersetzen, zum Beispiel mit einem Trauma oder einer seelischen Verletzung.
Die erste Träne
Der Stress nagt an mir. Nicht die Angst: Dank der Psychotherapie kenne ich mich sehr gut, ich kenne meine Schemen, meine Verletzungen, meine Schmerzen. Ich trete als Zweiter an, um es hinter mich zu bringen. Ich trete mit Schuldgefühlen aus der Vergangenheit an, die ich nur schwer loswerden kann. Die Betreuer drängen mich in die Enge, bestehen darauf, stellen Fragen. Ich schliesse meine Augen, zittere.
Dann muss ich eine Pyramide aus Kissen auf meinen Armen tragen. «Wo spürst du deine Angst? Im Solarplexus? Da?» Ein grosser, grober Mann mit einem sanften Blick steht da und drückt. Jetzt ziehen andere Hände ein weisses Laken um meinen Brustkorb, ein Tennisball drückt ebenfalls auf meine Brust. Ich kann kaum atmen.
Ziel ist es nun, die Kissen wegzuwerfen und mich körperlich von meiner Angst zu befreien. Ich wehre mich, ich schreie. Doch es gelingt mir. Ich bin leer. Ich verspreche, mir zuzuhören und mir zu vergeben. Es folgt allgemeines Umarmen. «La vie en rose» von Piaf. Meine erste Träne. Ich fühle mich leichter.
Am Ende des Tages ist die Stimmung endlich entspannt. Viele lächeln, lachen. Ein oder zwei fühlen sich schlecht. Der Teppich hat sie Schreckliches erleben lassen. Es fand ein Austausch zwischen den «Brüdern» statt. Ja, wir sind jetzt «Brüder». Wir werden mit einer heissen Suppe beglückwünscht.
Ein Redestab in Form eines Penis
Diesmal schlafe ich wie ein Baby. Diesmal ist auch das Erwachen sanft und das Wasser nicht eiskalt. Sie haben aufgehört, uns zu misshandeln. Sie geben uns zu verstehen, dass wir in einen geschlossenen Kreis eingetreten sind, dass wir zu ihnen gehören.
Während einer Tanzsession werden wir dazu gedrängt, uns auszuziehen. Die Betreuer gehen mit gutem Beispiel voran. In kleinen Gruppen sitzen wir im Kreis. Jeder ist aufgefordert, ein sexuelles Problem oder ein unangenehmes Erlebnis im Bett preiszugeben. Wer etwas sagen will, muss sich zuerst einen hölzernen Redestab in Form eines erigierten Penis schnappen.
Es folgt eine weitere geführte Meditation. Am Ende ertönen die Worte «Ich bin ein Geschenk» und «Du bist ein Geschenk». «Verteile diese Energie und Liebe auf deine Lieben, auf die Opfer von Kriegen, auf Flüchtlinge, auf diejenigen, die dir wehgetan haben», ermutigt der Erzähler. Wir fassen uns an den Händen. Ich weine.
Schweiss und Reinigung
Wir ziehen uns an, nur um uns gleich noch mal auszuziehen. In einem Hain wartet ein Reinigungsritual: eine Schwitzhütte. Im Inneren, im Dunkeln, drängen sich alle zusammen und stecken ihre Hintern in den Schlamm. In der Mitte befindet sich ein Loch mit glühenden Steinen – «die Grossväter». Das Wasser verdunstet. Ich schwitze. Ich überlebe.
Die Tür öffnet sich, um die Temperatur zu senken und neue glühend heisse «Vorfahren» hereinzubringen. Die Rückkehr aus dem Dunkeln ist wie ein Symbol für die verschiedenen Etappen, die ich in den letzten 48 Stunden durchlaufen habe.
Wie man rekrutiert
Ich bin hin- und hergerissen, ich habe Fragen. Ich zweifle nicht daran, dass ein solches Wochenende für manche Menschen aufschlussreich oder sogar hilfreich sein kann. Aber andere sind daran zerbrochen, haben sich auf diesem Teppich mit wahren Dämonen auseinandersetzen müssen. Innerhalb von nur 20 Minuten, obwohl es sich dabei manchmal um eine Lebensaufgabe handelt. Eine Arbeit, die begleitet werden muss. Ist es nicht gefährlich, sie nach Hause gehen zu lassen, ohne sie an eine Psychotherapie zu verweisen?
Am Dienstag darauf werde ich in einer E-Mail in der Community willkommen geheissen. Ein Dokument informiert über die Gesprächsgruppen und ein weiteres Wochenende, das man erleben kann. Ein Kapitel ist der Anwerbung – der «Einladung» – eines anderen Mannes gewidmet. Es werden sehr genaue Anweisungen gegeben, wie man den Kontakt herstellt und das Gespräch führt. Um die Nächsten anzulocken.