Kunstereignis des Jahres
Vermeers Weg von der Bibel zum Bordell

Mehr Vermeer war nie: An diesem Wochenende eröffnet in Amsterdam die bislang umfassendste Ausstellung mit Ölgemälden des niederländischen Barockmalers Jan Vermeer, «die grösste Werkschau aller Zeiten» laut Rijksmuseum – eine Sensation!
Publiziert: 11.02.2023 um 13:22 Uhr
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Aktualisiert: 13.02.2023 um 12:07 Uhr
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Das Rijksmuseum in Amsterdam zeigt vom 10. Februar bis 4. Juni die bisher umfassendste Ausstellung zu Jan Vermeer. Es rechnet mit über einer halben Million Besucherinnen und Besuchern aus dem In- und Ausland.
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Kopf an Kopf, Aug in Auge – so nah war wohl noch niemand dem «Mädchen mit dem Perlenohrring» (1664–1667): Am 27. Oktober 2022 klebt sich ein Klimaaktivist mit der rechten Wange an das weltberühmte Bild im Haager Mauritshuis. Dank des Schutzglases bleibt das Werk unbeschädigt und ist seit vorgestern für über hundert Tage in der Sonderausstellung «Vermeer» des Amsterdamer Rijksmuseum zu sehen.

Eine Sonderschau der Sonderklasse. Noch nie waren so viele Ölgemälde des Delfter Malers Johannes «Jan» Vermeer (1632–1675) zusammen an einem Ort: Von den 37 bekannten und erhaltenen Werken des Niederländers sind 28 im Rijksmuseum ausgestellt – die bisher einzige monografische Ausstellung von 1995/1996 in Den Haag und Washington wartete mit «bloss» 21 Vermeers auf.

Das vergleichsweise kleine Œuvre aus dem kurzen Leben des Künstlers verteilt sich auf 19 Sammlungen in sieben Ländern – «Das Konzert» (1662–1664) aus einem Museum in Boston ist 1990 gestohlen worden, wodurch seither nur noch 36 Gemälde zur Ansicht da sind. Dass jetzt mehr Vermeers denn je auf einmal zu sehen sind, ist keinem Jubiläum, sondern einem Zufall zu verdanken: Die Frick Collection in New York ist wegen Umbaus geschlossen.

Scarlett Johansson spielte «Das Mädchen mit dem Perlenohrring»

Deswegen reisten gleich drei Vermeer-Bilder, die seit über hundert Jahren in der US-Sammlung sind, erstmals zurück über den Atlantik in ihre holländische Heimat. Dieser Umstand bewegte andere Museen dazu, ihre Preziosen des niederländischen Meisters für ein einmaliges Familientreffen nach Amsterdam zu schicken. Einziger Wermutstropfen: Das Kunsthistorische Museum Wien gewährte dem Hauptwerk «Die Malkunst» (1666–1668) keinen Ausflug.

Aber auch so ist es ein hochkarätiges Treffen, für das Vermeers aus Tokio, Washington, London, Dublin, Edinburgh, Paris, Berlin, Frankfurt und Dresden zusammenkommen. Darunter sind selten gesehene Gemälde wie «Christus im Haus von Maria und Martha» (1654–1655), aber auch ikonenhafte Bilder wie «Das Milchmädchen» (1658–1659), «Ansicht von Delft» (1660–1661) oder eben «Das Mädchen mit dem Perlenohrring».

Das in Gelb und Blau gehaltene «Meisje met de parel», wie es auf Niederländisch heisst, ist das populärste Porträt von Vermeer: Wohl jeder Mensch kreuzt im Leben mindestens einmal ihren Blick auf irgendeinem Reprint. Die US-amerikanische Autorin Tracy Chevalier (60) landete mit ihrem Roman «Girl with a Pearl Earring» (1999) einen internationalen Bestseller, den Regisseur Peter Webber (55, «Hannibal Rising») 2003 mit Colin Firth (62) und Scarlett Johansson (38) in den Hauptrollen erfolgreich verfilmte.

Vermeer ist eine erfolgreiche Marke

«Johannes Vermeer, einer der begabtesten und originellsten niederländischen Maler des 17. Jahrhunderts, gehört anno 2023 zu den berühmtesten Künstlern der Welt», schreibt Pieter Roelofs (51), Leiter der Abteilung Malerei und Skulptur des Rijksmuseums, im Ausstellungskatalog. «So berühmt, dass er in vielen Publikationen und Ausstellungen einfach nur Vermeer genannt wird, als handele es sich um eine erfolgreiche Marke.»

Zur Marke machte sich der Künstler schon zu Lebzeiten: Im Oktober 1632 als zweites Kind und erster Sohn einer Delfter Mittelstandsfamilie geboren, kam Johannes schon früh mit führenden Malern in Kontakt, da sein Vater im Gasthaus Mechelen am Marktplatz Kunsthandel betrieb. Bei welchem Meister Vermeer seine Ausbildung zum Maler genoss, ist wie bei so vielen Künstlern seiner Zeit nicht bekannt.

1653 heiratete der protestantische Vermeer Catharina Bolnes (1631–1687) aus einer katholischen Patrizierfamilie, was für ihn einen sozialen Aufstieg bedeutete. Im selben Jahr wurde er Mitglied in der Lukasgilde und als «Meistermaler Johannis Vermeer» ins Meisterbuch eingetragen. 1662 war er als Vertreter der Delfter Maler für zwei Jahre Vorsteher der Gilde. Vermeer war fortan ein angesehener Mann und konnte gut vom Malen leben.

Rijksmuseum rechnet mit halber Million Besucherinnen und Besuchern

Sein künstlerischer Weg führte ihn von der Bibel zum Bordell, bevor er seine Bestimmung fand: In seinen ersten, grossformatigen Ölbildern brachte Vermeer Jesus, eine frühchristliche Heilige und eine antike Göttin auf die Leinwand, bevor er sich mit dem Gemälde «Bei der Kupplerin» (1656) dem gemeinen Volk zuwandte. Von da an spezialisierte er sich zum Meister des niederländischen Alltags im Kleinformat. Vermeer verwendete Erfolgsformeln: Obwohl er nur rund drei Dutzend Werke hinterlässt, weisen sie etwas Serielles auf.

33 Gemälde rücken Frauen ins Zentrum, 32 sind in einem Innenraum inszeniert, 24 sind von links belichtet, und 15 bilden dort ein Fenster ab. «Nie zeigt er einen direkten Ausblick aus dem Fenster auf den Himmel oder eine Wolkenpartie», schreibt Ausstellungskurator Gregor J. M. Weber (67) im Begleitbuch. «Das hellste Weiss kann er sich so für eine von der Sonne beschienene Fensterwandung aufheben und von da aus alle weiteren Farben im Raum abdunkeln.» Hier zeigt sich der wahre Meister.

Das Rijksmuseum rechnet mit über einer halben Million Besucherinnen und Besuchern aus dem In- und Ausland. Die Ausstellung muss man gesehen haben, denn eine grössere Vermehrung an Werken des niederländischen Barockmeisters an einem Ort wird in absehbarer Zeit nicht geben.

«Vermeer», bis 4. Juni 2023, Rijksmuseum Amsterdam

Katalog zur Ausstellung: Pieter Roelofs/Gregor J. M. Weber, «Vermeer», Belser

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