Zwei Nachmittage die Woche geht die ganze Schule in den Untergrund. Im Keller der Grundacherschule in Sarnen OW drehen sich Bohrköpfe, rattern Nähmaschinen, streichen Pinsel übers Papier, rieseln Holzspäne, fassen Fäden Chrälleli um Chrälleli. Die ganze Schülerschaft ist in der Macherei am Werk.
Hier zeigen sich erste Attribute einer Schule, die vor 25 Jahren als Angebot mit Tagesstruktur für die Basisstufe (Kindergarten bis 2. Klasse) gegründet wurde und seit 2017 die gesamte Volksschulzeit abdeckt: In der Macherei arbeiten an diesem Montagnachmittag vom Vierjährigen bis zur Sechzehnjährigen alle durchmischt, und zwar an Projekten, die sie selbst ausgedacht haben, sei dies ein Kleidungsstück, ein Poster oder eine Kugelbahn.
Was nicht passiert: Es entstehen nicht ganze Klassensätze von identischen Holz- oder Näharbeiten nach Vorlage einer Lehrperson. Und es gibt keine Vorgabe, mit welcher Handfertigkeit sich die Kinder und Jugendlichen beschäftigen müssen.
Der Vergleich mit «herkömmlichen» Schulen ist hier nicht gern gesehen. Bei einer Kaffeepause unter der Eiche im Hof sagt Co-Schulleiterin Karin Anderhalden (55), sie wolle nicht über die Volksschule reden, sondern das Gelingen an ihrer eigenen Schule dokumentieren.
Die Grundacherschule agiert nicht nur in bestem Einvernehmen mit dem Kanton Obwalden, sondern wird von Fachleuten aus der Bildung auch immer wieder als eigentliche Vorzeige-Schule genannt.
- Staatlich bewilligte Tagesschule seit 1999
- Zwei Schulgebäude: Grosselternhaus von Co-Schulleiter Victor Steiner mit Anbau (2003) für Basis- und Mittelstufe, Zusatzbau für Oberstufe mit Schulküche (2018)
- Start als Angebot für die Basisstufe, Erweiterung bis zur Mittelstufe 2007, bis zur Oberstufe 2017
- Aktuell 62 Kinder und Jugendliche
- Einteilung in 3 Stufen, nicht nach Jahrgängen
- 10 Pädagoginnen und Pädagogen
- Die Lehrpersonen sind in einer 42-Stunden-Woche angestellt, haben fünf Wochen Ferien plus zwei Wochen Überzeitkompensation
- Preisgekrönt (Schweizer Schulpreis 2015, Lissa-Preis 2014 und 2022)
- Staatlich bewilligte Tagesschule seit 1999
- Zwei Schulgebäude: Grosselternhaus von Co-Schulleiter Victor Steiner mit Anbau (2003) für Basis- und Mittelstufe, Zusatzbau für Oberstufe mit Schulküche (2018)
- Start als Angebot für die Basisstufe, Erweiterung bis zur Mittelstufe 2007, bis zur Oberstufe 2017
- Aktuell 62 Kinder und Jugendliche
- Einteilung in 3 Stufen, nicht nach Jahrgängen
- 10 Pädagoginnen und Pädagogen
- Die Lehrpersonen sind in einer 42-Stunden-Woche angestellt, haben fünf Wochen Ferien plus zwei Wochen Überzeitkompensation
- Preisgekrönt (Schweizer Schulpreis 2015, Lissa-Preis 2014 und 2022)
Während Bildungsinsider und Öffentlichkeit in der Deutschschweiz derzeit über Sinn und Unsinn von Noten, die Grenzen der integrativen Schule oder die Abschaffung der Selektion kontrovers debattieren, lebt die Grundacherschule seit einem Vierteljahrhundert vor, wie eine «andere Schule» funktioniert.
Eine mögliche Form der Schule der Zukunft ist in Sarnen schon lange da: Es gibt keine Noten – ausser im Schulabgangszeugnis, weil der Kanton darauf besteht. Es gibt keine Selektion nach der Mittelstufe: Das eigene Tempo – und die persönlichen Interessen – bestimmen ohnehin das individuelle Lernen. Und: Die Schule beschäftigt keine Sonderpädagoginnen, nimmt aber Kinder auf, denen an der Volksschule zum Beispiel eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder Legasthenie diagnostiziert wurde.
Die Erfahrungen der privaten Pionierschule interessieren heute an vielen öffentlichen Schulen, die Veränderung suchen. Die Nachfrage nach Besichtigungen, Workshops und Referaten ist so gross, dass die ausgebildete Kindergärtnerin Anderhalden ihr Pensum in der Basisstufe ihrer Schule auf das neue Schuljahr hin abgibt. Die Schulgründerin wird ihre Kraft dafür einsetzen, ihr pädagogisches Konzept nach aussen zu tragen.
Ihr Menschenbild bildet die Basis für die Gemeinschaft an der Schule, die sie gemeinsam mit ihrem Mann Victor Steiner (55) leitet. «Ein Mensch kommt auf die Welt und ist in Ordnung, wie er ist», sagt sie. Die Folge davon: «Wir klären keine Kinder ab. Für uns sind alle Kinder okay.» Beim Rundgang durch die zwei Schulgebäude spricht sie davon, dass manche Kinder mit fünf schreiben oder lesen lernen wollen, andere aber mit sieben oder acht noch so verspielt sind, dass sie kein Interesse daran zeigen.
An der Grundacherschule müssen Kinder Fertigkeiten nicht zu einem definierten Zeitpunkt erlernen. Das bedeutet aber nicht, dass die Schule nicht Leistung einfordert. «Wir möchten das Kind dort erwischen, wo es steht, und ihm die richtigen Angebote machen. Das gelingt uns gut», sagt Anderhalden. Sie illustriert die Aussage mit einem Bild: «Wir ziehen nicht am Gras, damit es schneller wächst. Wir giessen bloss.» Das pädagogische Team bereite den Boden für das Lernen. «Eltern werden oft nervös, wenn ihr Kind zum Beispiel mit sieben noch nicht lesen lernt. Manche veranlassen dann eine Abklärung des Kindes, auch wenn wir zur Geduld raten.»
Nicht einzig das Menschenbild von Karin Anderhalden legt die Basis für die Arbeit an der Schule. Weitere Referenzen sind Kinderarzt Remo Largo, Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm, Pädagogin Maria Montessori sowie Designerin Rosan Bosch, die sich mit Lernarchitektur befasst, oder die Väter der Selbstbestimmungstheorie, Psychologe Richard Ryan und Psychiater Edward Deci. Erkenntnisse aus der Neurobiologie, etwa zu den Grundlagen effektiven Lernens, fliessen ebenfalls hinein.
Emilia (14) wechselte nach der 6. Klasse an die Grundacherschule. An die Überforderung nach dem Wechsel vor bald zwei Jahren erinnert sie sich gut. «Ich war gewohnt, Aufträge zu bekommen, und es war schwierig, Eigeninitiative zu finden», sagt sie. Doch dann kam die Freude am Freiraum. Emilia schätzt zum Beispiel, dass sie bestimmen kann, wo sie sich zum Arbeiten hinsetzt – an einen Tisch im Flüsterzimmer, auf ein Sofa oder unter einen Baum. Anders als an der vorherigen Schule, wo sie in einer gemischten 5. und 6. Klasse mit über 40 Kindern in einem Zimmer still sitzen musste – aufgrund ihres ADHS eine grosse Herausforderung.
Jetzt komme sie lieber zur Schule, sagt sie. Derzeit fokussiert Emilia auf Mathematik, befasst sich mehrere Stunden täglich selbständig damit. Ihr gefällt, dass sie entscheiden kann, wann sie parat ist für eine Prüfung zu einem Thema. Ihr Ziel ist es, eine Lehrstelle als Fachfrau Information und Dokumentation zu finden.
Emilias Kollege Mauro (16) hat seine Lehrstelle schon in der Tasche. Der Luzerner, dessen Vater an der Grundacherschule unterrichtet, ist seit dem Chindsgi hier und beginnt bald seine Ausbildung zum Buchhändler. Er liebe das Lesen, vor allem Comics und Mangas, und habe so viel Zeit in der Macherei und mit bildnerischem Gestalten verbracht, dass er zwischendurch ermahnt worden sei, sich auch mit anderen Fächern zu beschäftigen.
Gemeinsam mit Mauro schliessen zehn weitere Jugendliche die obligatorische Schulzeit ab. Acht von ihnen beginnen eine Lehre, zwei wechseln ans Gymnasium, jemand macht ein Au-pair-Jahr. Nach der Erweiterung des Angebots auf sämtliche Volksschuljahre ist es der vierte Jahrgang, der die Grundacherschule nach vollendeter obligatorischer Schulzeit verlässt. Typische Biografien ehemaliger Grundacherschüler und -schülerinnen gebe es nicht, sagt Karin Anderhalden. «Die einen doktorieren, die anderen arbeiten auf dem Bau.»
Wie Emilia ist auch Melanie Pichler (40) seit 2022 an der Schule. Die Oberstufenlehrerin suchte nach einer Umgebung, die offener und freier ist. Dass sie nicht mehr als Lehrperson vor einer Klasse performt, sondern Jugendliche individuell als Lernbegleiterin coacht, ist für sie eine Erleichterung. «Ich habe den Überblick, bin ein Vorbild. Aber die Rolle ist nicht so absolut wie an einer traditionellen Schule», sagt sie.
An der Grundacherschule gibt man die Verantwortung den Kindern, sorgt dafür, dass sie arbeiten können, vereinbart mit ihnen Termine, Ziele, ist für Fragen und Feedback da. Zeichnet sich beispielsweise in der Oberstufe ab, dass ein Schüler ans Gymnasium wechseln will, definieren Lernbegleiterin und Schüler gemeinsam, welche Kompetenzen er dazu noch stärken muss. Dasselbe gilt für eine Schülerin, die einen handwerklichen Beruf ergreifen will – es macht für sie mit Blick auf ihren eingeschlagenen Weg keinen Sinn, sich mit französischer Grammatik oder mit deutschen Kommaregeln abzuquälen, hingegen fokussiert sie vielleicht auf Geometrie.
Diese Individualisierung soll aber nicht einen Haufen Eigenbrötler hervorbringen. «Wir sind eine Gemeinschaft und fordern diese auch ein, zum Beispiel mit Projekten wie dem Theaterfestival», sagt Karin Anderhalden. Im Dienst der Gemeinschaft agieren auch die Jugendlichen der Oberstufe, die jeweils während einer Woche zu zweit mit einer Köchin für die ganze Schule Zmittag zubereiten und auch waschen und putzen.
An der Grundacherschule gebe es mehr Raum, um auf die Kinder einzugehen, sagt Lernbegleiterin Pichler. «Gibt es einen Konflikt, bestrafen wir nicht, sondern investieren Zeit, um diesen zu lösen. Damit stärken wir die Beziehung.» Deren Macht dürfe man nicht unterschätzen, betont sie.
Die Schulplätze sind begehrt. Manchmal weist der Kanton oder das Sozialamt der Schule Kinder aus schwierigen Situationen zu. «Wenn es um Beziehung geht, sind wir die Richtigen», sagt auch Karin Anderhalden.
Meist sind es aber die Eltern selbst, die ihr Kind entweder von Beginn weg an der Grundacherschule anmelden oder es aufgrund von einer schulischen Notsituation als Quereinsteiger umplatzieren – sie bezahlen dann je nach steuerbarem Einkommen zum Beispiel für eine Erstklässlerin zwischen 1200 und 1500 Franken im Monat. Das Schulgeld soll möglichst niemanden ausschliessen: Familien mit kleinerem Budget können einen Antrag auf Reduktion beim schuleigenen Förderverein stellen.
Der Rundgang ist zu Ende, wir stehen wieder unter der Eiche im Hof. Wir haben die alte Villa mit den knarrenden Treppen, Sofa-Ecken und Spielzimmern erkundet, die eindrücklich ausgestattete Macherei bestaunt, den Neubau für die älteren Kinder mit den hellen Räumen, der Sky Lounge auf dem Dach, dem Esssaal und der Schulküche sowie der Toilette mit den dunkelgrünen Wänden und dem goldgerahmten Spiegel. Den Umschwung mit Gewächshaus, Kletterbaum, Tischtennis und Trampolin, Wasserpumpe und Spielplatz.
Was können Delegationen von öffentlichen Schulen von einem Besuch in Sarnen mitnehmen? Wie liesse sich das Grundacherschulkonzept auf eine Volksschule mit herkömmlichen Klassenzimmern und ein paar Hundert Kindern übertragen? Es gebe für alle Gestaltungsraum, sagt Karin Anderhalden. Der Lehrplan sei ein Plan und kein Gesetz. «Wir zeigen, wie Freiheit strukturiert werden kann.»
Schulen können klein anfangen. Ein Vorschlag: im Stundenplan jeden Tag zwei Lektionen «Mathe oder Deutsch» eintragen. «In diesen zwei Lektionen entscheiden die Kinder selbst, woran sie arbeiten.» Am Thema Redewendungen oder an einem Buchvortrag, an Winkeln oder Gleichungen mit x. Das ermöglicht erste Erfahrungen mit selbstgesteuertem Lernen.
Als wir das Gartentor zum Schulgelände hinter uns zuziehen, begleitet uns ein Satz der Schulleiterin. «Schule sollte sein wie der Chindsgi. Dort dürfen sich die Kinder mit dem beschäftigen, wofür sie intrinsisch motiviert sind. Warum sollte dies für die Schule nicht gelten?»