Nadya (55) und Candid Pfister (54) hätten auch einen anderen Weg einschlagen können. Einen einfacheren. Einen, bei dem sie sich nicht jeden Tag damit auseinandersetzen müssten, dass ihre Tochter Céline mit 13 Jahren Suizid begangen hat. Doch Pfisters haben sich entschieden, der Wut, der Angst, der Ohnmacht, entgegenzutreten – und sind dabei zur wichtigsten Stimme im Kampf gegen Cybermobbing geworden. Diesen Donnerstag durften sie ihren bisher grössten Erfolg feiern: Die Schweiz will Cybermobbing als eigenen Straftatbestand einführen. Das hat der Ständerat diese Woche überraschend beschlossen. Die Rechtskommission des Nationalrats wird nun einen Gesetzesentwurf ausarbeiten.
Milde Strafe für Täter
Rückblende. Der 28. August 2017 ist der Tag, der alles in Nadya und Candid Pfisters Leben verändert. Céline, ihr einziges Kind, nimmt sich das Leben. Dies, nachdem die Jugendliche aus Spreitenbach AG monatelang online gemobbt worden war. Ihr Schwarm, ein damals 14-jähriger Junge, verlangt intime Bilder von ihr. Die Fotos landen bei der Ex-Freundin, die das Bild auf Snapchat teilt. Ganz Spreitenbach sieht, wie Céline leicht bekleidet auf ihrem Bett sitzt. «Haha Céline, vo wo hesh de geili push-up bh her?», schreibt jemand. «Das hat sie gebrochen», sagte Célines Mutter. Die Eltern strengen einen Gerichtsprozess an, der Junge wird wegen Nötigung und mehrfacher Pornografie verurteilt und muss einen Arbeitseinsatz von vier Tagen leisten, die Ex-Freundin erhält eine ähnliche Strafe.
Viel zu wenig, finden Nadya und Candid Pfister. «Cybermobbing muss Konsequenzen haben», sagen sie fortan immer und immer wieder. Die Eltern sehen sich bestätigt, weil die Täterin nur einen Monat nach Célines Tod in einem Video ein anderes Mädchen bedroht: «Ich riss der dini pussy uf», sagt sie da. Vom Arbeitseinsatz, ihrer Strafe, postet sie ein lächelndes Selfie.
Célines Eltern leisten viel Aufklärungsarbeit
Nadya, die 60 Prozent in der Administration und Candid, der 80 Prozent in einem Callcenter arbeitet, verwenden fortan jede freie Minute für ihren Kampf gegen Cybermobbing. Sie wollen aufrütteln, enttabuisieren, sensibilisieren. 2021 gründen sie den Verein Célines Voice, geben Workshops, halten Vorträge – vor kurzem in einer Schule in Deutschland, in der Aula vor 200 Schülerinnen. Sie betreuen Jugendliche, die Abschlussarbeiten zum Thema machen.
Pfisters sind mit Célines Tod unfreiwillig zu Cybermobbing-Fachleuten geworden, Candid Pfister kann aus dem Effeff sämtliche relevanten Fälle europaweit nennen, Straftatbestände aufzählen, als hätte er nebenbei noch Jura studiert. 2020 sind Pfisters für ihr Engagement mit dem Prix Courage des «Beobachters» ausgezeichnet worden.
Pfisters Engagement ist nötiger denn je, denn Cybermobbing nimmt seit Jahren stark zu. 2022 gab in der James-Studie fast jeder dritte Jugendliche an, schon einmal im Internet fertiggemacht worden zu sein. Ein paar Jahre zuvor waren es noch deutlich weniger. In keinem anderen europäischen Land wird mehr gemobbt als in der Schweiz. Drohungen finden immer häufiger online statt: Eine Zürcher Erhebung zeigte, dass 2017 bereits jede zweite Ehrverletzung und jede vierte Drohung online stattfanden.
Politik hörte die Eltern
Pfisters Engagement führte dazu, dass die Aargauer SP-Nationalrätin Gabriela Suter 2020 eine parlamentarische Initiative eingereicht hat, die für Cybermobbing einen eigenen Straftatbestand fordert. In der Vergangenheit sind solche Vorstösse jeweils gescheitert.
Suter argumentierte, dass klassische Grundtatbestände wie Nötigung der digitalen Realität nicht gerecht würden. Mobbingopfer müssen sich mit Tatbeständen wie Beschimpfung, Drohung oder Nötigung behelfen. Die Verfahren sind oft mit Beweisproblemen verbunden. Die Täter und Täterinnen könnten anonym bleiben, die Inhalte seien rund um die Uhr verfügbar und kaum mehr löschbar. Das heutige Strafrecht müsse angepasst werden. Einige andere europäische Länder, wie beispielsweise Österreich, haben vor einigen Jahren ein Cybermobbinggesetz eingeführt.
Dreieinhalb Jahre nach Einreichung hat nun auch der Ständerat Ja gesagt zu einem neuen Gesetz.
Strafbestand hat Signalwirkung
Candid Pfister: «Es ist ein Geschenk, mit dem wir nicht mehr gerechnet hätten.» Sie seien «überglücklich und erleichtert». Nadya Pfister: «Unser allergrösster Dank gilt Gabriela Suter, die das möglich gemacht hat.»
Mit dem neuen Straftatbestand dürfte es für Betroffene zwar einfacher werden, sich zu wehren – doch härtere Strafen für Jugendliche, wie etwa Célines Peiniger, gäbe es damit wohl nicht. Die Höchststrafe für unter 15-Jährige ist eine persönliche Leistung von zehn Tagen.
Mehr zum Fall Céline und zu Cybermobbing
Der Straftatbestand habe vor allem Signalwirkung, sagt Nadya Pfister: «Das Parlament will die Jugendlichen schützen, nimmt das Delikt ernst.»
Pfisters geht es um echte Konsequenzen: «Dass eine Wiederholungstäterin wie die Peinigerin von Céline gestoppt wird», sagt Candid Pfister und erwähnt als Vorbild Frankreich, das nach mehreren Suiziden härter gegen Mobberinnen vorgehen will.
Eltern fordern, dass Cybermobbing zum Offizialdelikt erklärt wird
Mobbende sollen künftig die Schule wechseln, nicht die Gemobbten. Täter sollen auf Plattformen gesperrt werden – für mehr als nur ein paar Tage. Bei Nichteinhaltung drohen hohe Bussen. Betroffene sollen zudem mit einer nationalen, staatlichen Hotline einfacher und schneller Hilfe holen können. Ein guter Anfang, finden Pfisters.
Am 3. Dezember wäre Céline 20 Jahre alt geworden. Pfisters versammelten sich zu ihrem Geburtstag jeweils mit Freunden und Familie um das Grab ihrer Tochter, «s Gräbli», wie Nadya Pfister sagt. Sie zündeten Kerzen an, liessen Célines Lieblingsmusik (Rap) laufen. Vor zwei Jahren – als Céline 18 geworden wäre – haben sie damit aufgehört. Die Anteilnahme an ihrem Schicksal ist aber auch nach all diesen Jahren gross, die Rückmeldungen zahlreich. Célines Freundinnen von damals sitzen heute im Vorstand des Vereins.
Für Pfisters ist klar: Sie machen weiter. Beim Gesetzgebungsprozess wollen sie dabei sein. Sie fordern, dass Cybermobbing zum Offizialdelikt wird, dass die Behörden bei Hinweisen aktiv werden müssen – und nicht die Eltern. Es gibt noch viel zu tun.