Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach über die Kraft von Frauenbeziehungen
«Es geht auch, ohne dass Männer das gut finden»

Einst löste sie eine schweizweite Sexismus-Debatte aus, dann sorgte sie mit ihrer Gesellschaftskritik über die Erschöpfung der Frauen für Aufsehen. Jetzt wünscht sich Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach eine «Revolution der Verbundenheit». Was meint sie damit?
Publiziert: 20.10.2024 um 20:06 Uhr
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Aktualisiert: 20.10.2024 um 20:13 Uhr
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Franziska Schutzbach im Hotel Seidenhof in Zürich. Mit ihrem neuen Buch …
Foto: Siggi Bucher

Auf einen Blick

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Karen SchärerTeamlead Gesellschaft

Spätestens als Franziska Schutzbach (46) sagt: «Es geht auch, ohne dass die Männer das gut finden», hat sie ihr Publikum im ausverkauften Zürcher Kaufleuten elektrisiert. Es ist nicht der erste Applaus, den die renommierte Schweizer Geschlechterforscherin, Soziologin und Autorin an diesem Dienstagabend im Oktober erntet. Wenige Tage zuvor ist ihr neues Buch «Revolution der Verbundenheit» erschienen; zur Buchvernissage im Kaufleuten sind fast ausschliesslich Frauen gekommen.

Am Nachmittag vor der Vernissage nimmt sich Franziska Schutzbach Zeit für ein Gespräch im Hotel Seidenhof, wo der Veranstalter sie untergebracht hat. Ihre Hauptbotschaft: Frauenbeziehungen können die Gesellschaft verändern. «Für strukturelle Veränderungen braucht es Zusammenschlüsse von Frauen, Koalitionen und feministische Bewegungen», sagt Franziska Schutzbach. Das kann im Grossen wie im Kleinen geschehen; es geht ihr nicht immer nur um Streikbewegungen und Umbrüche. «Auch wenn Frauen in ihrem Alltag Allianzen bilden, können sie für sich und ihr Umfeld viel verändern.»

Eine separatistische Utopie ohne Männer?

Sollen Männer in Schutzbachs Utopie also aussen vor bleiben? Keineswegs, sagt sie beim Kaffee. Doch zuerst müssten wir die Frauen gewinnen. Denn ein Blick in die Geschichte zeige: «Wir brauchen nicht primär Männer an Bord, um etwas zu verändern.» Das Frauenwahlrecht, die Fristenlösung bei der Abtreibung, das Verbot von Vergewaltigung in der Ehe: «All diese Kämpfe wurden trotz enormer Widerstände durchgesetzt; sie wurden durchgesetzt, obwohl zum Zeitpunkt der Veränderung unzählige Männer dagegen waren und erst rückwirkend diese Veränderungen guthiessen. Das finde ich unglaublich ermutigend.»

Franziska Schutzbach hatte 2016 unter dem Hashtag #SchweizerAufschrei eine Debatte über Sexismus ausgelöst.
Foto: Siggi Bucher

Schutzbach hat sich als Wissenschaftlerin und Aktivistin ein Feld ausgesucht, das konservative Kreise triggert: Sie positioniert sich linksfeministisch, schreibt über Sorgearbeit und Vereinbarkeit ebenso wie über geschlechtsspezifische Gewalt, Antifeminismus und Rassismus. Breite Bekanntheit erlangte sie 2016, als sie unter dem Hashtag #SchweizerAufschrei hierzulande noch vor der #MeToo-Bewegung eine Debatte über Sexismus in der Schweiz auslöste. Mit ihrem Buch «Die Rhetorik der Rechten» (2019) ist sie auch in Österreich und Deutschland zur gefragten Expertin geworden.

Grosse Resonanz fand auch ihr letztes Buch «Die Erschöpfung der Frauen» (2021). Darin legte sie dar, dass Frauen heute zwar mehr Wahlmöglichkeiten haben als je zuvor, gleichzeitig aber noch nie so erschöpft waren – weil von ihnen wie eh und je ständige Verfügbarkeit verlangt wird.

In ihrem neusten Buch, das derzeit auf den ersten Plätzen der Sachbuch-Bestsellerliste steht, spinnt sie das Thema weiter: «Nach der Gesellschaftskritik im letzten Buch wollte ich mich utopischeren Gedanken zuwenden», sagt sie. Sie wolle Frauengeschichte nicht immer nur als Defizitgeschichte erzählen, sondern «als Möglichkeitsgeschichte».

Herausgekommen ist ein zugängliches Buch über Frauenbeziehungen, über Liebe, Freundschaft, Verwandtschaft, über erzählte und verschwiegene Frauengeschichten, darüber, wie Frauen sich gegenseitig und gemeinsam durch Allianzen weiterbringen.

Rangeln um einen Platz im Patriarchat

Patriarchale Macht basiere auf der Spaltung der Frauen, sagt Franziska Schutzbach. «Die Männerherrschaftsverhältnisse sind so stark, dass Frauen miteinander konkurrieren müssen, um sich einen Platz zu erobern.» In den Märchen unserer Kulturgeschichte ist der Konkurrenzkampf unter Frauen sogar blutig: Schneewittchens Stiefmutter ist bereit, ihre Stieftochter im Wettstreit um den Status der schönsten Frau zu töten. In Aschenputtel zwingt eine Mutter ihre Töchter dazu, sich eine Ferse und eine Zehe abzuschneiden, um den Platz an der Seite des Prinzen zu erobern. Und Frau Holle teilt zwei Mädchen in eine gute und eine faule Frau ein.

Franziska Schutzbachs feministischer Blick auf Märchen offenbart die Spaltung der Frauen.
Foto: Siggi Bucher

Wenn Frauen sich mehr darauf konzentrieren, sich selbst zu organisieren und miteinander für ihre Freiheit einzustehen, statt zu versuchen, sich Plätze in der patriarchalen Gesellschaft zu sichern, wäre das eine «Revolution der Verbundenheit» – und hätte Folgen: «Das ist eine Bedrohung für das Patriarchat», sagt Franziska Schutzbach.

Konkret könnte ein Effekt von starken Frauenbündnissen zum Beispiel sein, dass Frauen lernen, ihren strengen Blick auf andere Frauen zu hinterfragen – und sie dadurch im Geschäftskontext fördern, statt sie als Konkurrentinnen auszubremsen. Oder dass Frauen eher aus toxischen und gewalttätigen Beziehungen aussteigen, weil ihre Freundinnen sie auffangen – auch ökonomisch.

Frauenfreundschaften sind bedeutend

In der Utopie der Geschlechterforscherin sind Frauenfreundschaften starke Stützen. Doch wie die US-amerikanische Serie «Sex and the City» so schön zeigt, werden Freundschaften unter Frauen häufig bloss als Vorprogramm betrachtet. Sie bilden einen Warteraum, bis Mr. Right, der Richtige, auftaucht. Nicht so bei Franziska Schutzbach. Sie selbst wurde mit 23 Jahren zum ersten Mal Mutter, inzwischen ist ihr älteres Kind aus dem Haus. «Ich habe erst in den letzten Jahren gemerkt, dass es für meine Zufriedenheit entscheidend ist, verschiedene Beziehungsformen gleichwertig nebeneinander zu stellen.» Andere Beziehungen sind ihr genauso wichtig wie die Familie und die Partnerschaft. Freundschaften pflegt sie als tiefe Bindungen.

Statt nur Beziehungen zu pflegen, die nützlich sind – etwa um den Alltag mit Kindern zu organisieren –, plädiert sie dafür, Freundschaft wieder zu einem verheissungsvollen Ort zu machen. Ein Ort, an dem man gemeinsam eine Perspektive auf die Welt entwickeln kann, an dem man aber auch Unterschiede aushalten kann. «Verbundenheit macht frei und ermöglicht, sich verletzlich zu zeigen», sagt sie.

Wichtig ist ihr, dass ihre Utopie der Verbundenheit nicht als naive Wohlfühloase verstanden wird. «Man muss nicht alle Frauen lieben», sagt sie. Man müsse kritisch bleiben. «Es geht auch darum, weiter zu streiten und Differenzen auszutragen. So nehmen wir Frauen uns gegenseitig ernst.»

Ihre Utopie der Verbundenheit dürfe nicht als naive Wohlfühloase missverstanden werden, sagt die Geschlechterforscherin.
Foto: Siggi Bucher

Verbunden zu sein, ist mit Anstrengungen verbunden; die Bewältigung des Alltags verlangt vielen schon alles ab. Das erlebt derzeit auch die Autorin, die mit ihrem Partner und ihrer Tochter in Basel lebt. Während sie ihre Botschaft der Verbundenheit in- und ausländischen Medienschaffenden erklärt, auf Bühnen in Berlin, Nürnberg, München und bald auch in der Schweiz und Österreich spricht und liest, vernachlässigt sie ihre eigenen Bindungen. «Ich bin im Moment in allen meinen Beziehungen abwesend», sagt sie und lächelt über das Paradox.

Dafür – das zeigen begeisterte Kommentare in den sozialen Medien nach der Buchvernissage in Zürich – schafft sie es mit ihren Auftritten, ihr Publikum zu beflügeln und zu bestärken. Franziska Schutzbach setzt damit etwas in Bewegung; sie schafft Verbundenheit.

Franziska Schutzbach: «Revolution der Verbundenheit. Wie weibliche Solidarität die Gesellschaft verändert», Droemer. Die Autorin tritt in verschiedenen Schweizer Städten auf. Termine: franziskaschutzbach.com
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