«Der Fall Walter Gross ist eine der merkwürdigsten und zwielichtigsten Affären der Kriminalgeschichte», schreibt das «Badener Tagblatt» 1971. Seit 13 Jahren sitzt der vermeintliche Mörder im Gefängnis, nun kommt es im Rathaus von Wettingen AG zum Revisionsprozess. Das öffentliche Interesse ist riesig: Unzählige Journalisten verfolgen das Geschehen, zur Urteilsverkündung drängen Schaulustige in den Saal. Dann der Freispruch: «Der Saal widerhallt vom donnernden Applaus, von den Bravorufen der vielen Menschen», schreibt ein Reporter. Der Gerichtspräsident mahnt zur Ruhe. Mittendrin steht der 48-jährige Walter Gross und verzieht keine Miene: «Mir ist nicht ums Lachen.»
Die Tat geschah auf der Ruine Stein, hoch über der Altstadt von Baden AG. Am Morgen des 24. Mai 1958, eines Pfingstsamstags, fanden zwei Schülerinnen bei der St. Niklauskapelle einen Mann, der neben einer Sitzbank in einer Blutlache lag. Der 57-jährige Christian Bätscher war Opfer einer Gewalttat geworden. Er starb im Spital an seinen Kopfverletzungen, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
Das blutige Ende eines Sonderlings
Es war das «blutige Ende eines Sonderlings», wie es in der Presse hiess. Der stark hörbehinderte Mann hatte jahrelang die Kehrichtdeponie der Stadt betreut und dort in einer Baracke gehaust. Nach seinem Tod stellte sich heraus, dass er seit einiger Zeit in keiner Gemeinde mehr als Einwohner gemeldet gewesen war.
Wenige Monate zuvor hatte es in der Region bereits einen spektakulären Mordfall gegeben. Die Aargauer Polizei kam den Tätern nicht selber auf die Spur und musste sich schwere Vorwürfe gefallen lassen. Umso grösser war nun der Druck, den neuen Fall rasch aufzuklären – erst recht, als das Opfer diesmal eine stadtbekannte Persönlichkeit war, die nach einhelliger Meinung «keiner Mücke etwas zuleide tun» konnte.
Die Ermittler kamen rasch zum Schluss, dass es sich um Raubmord handeln müsse. In der Nähe des Tatorts wurden zwei Teile einer vierkantigen Holzlatte gefunden, die als Tatwaffe identifiziert wurde. Bätscher hatte am Freitag seinen Zahltag bekommen. Als er auf der Ruine gefunden wurde, fehlte das Geld. In einer Felsspalte in der Nähe war man hingegen auf eine Brieftasche mit Fotografien und alten, leeren Zahltagssäcklein des Getöteten gestossen. Die Parkanlage auf der Burgruine sei «quasi die Sommerresidenz des Clochards» gewesen», der «in den dortigen Felsspalten auch seine Buchhaltung verstaute», sollte ein Gerichtsreporter später schreiben.
Was geschah in der Nacht auf Pfingstsamstag?
Den Abend vor seinem Tod hatte Bätscher in Badener Wirtshäusern verbracht. Nach Mitternacht wurde er am Bahnhof zum letzten Mal gesehen. Die beiden Augenzeugen B. und W., die sich wie Bätscher im Restaurant Schmidstübli aufgehalten hatten, erkannten diesen in Begleitung eines jungen Mannes mit roter Weste. Sie beschrieben ihn als Typen mit auffälliger Halbstarken-Bekleidung – jenem Stil, der von der amerikanischen Rock-'n'-Roll-Kultur beeinflusst war.
Walter Gross wurde am Pfingstmontag um 6.45 Uhr aus dem Bett geholt. Bei der polizeilichen Befragung gab der knapp 35-Jährige sofort zu, dass er in der Tatnacht mit Christian Bätscher auf der Burgruine gewesen war. Er bestritt jedoch, etwas mit dessen Tod zu tun zu haben. Auch Gross hatte am Freitag seine Lohntüte erhalten und am Abend in einem Lokal gejasst. Als er in sein Zimmer zurückkehren wollte, stand er vor verschlossener Tür. Am Bahnhof traf er danach auf Bätscher, den er flüchtig kannte. Auf der Suche nach einem Schlafplatz machten sich die beiden auf den Weg zur Ruine.
Knapp unterhalb der Ruine legten die beiden eine Pause ein. Dort befand sich eine Baustelle. Gross sollte später aussagen, er habe mit einer Holzlatte von der Baustelle Steine gespickt – mit einem solchen Stück, wie es als Tatwaffe benutzt wurde. Laut Gross schlief Bätscher auf der Ruhebank neben der Kapelle ein. Auf einem anderen Bänkli hätten sich zwei Italiener unterhalten. Ihm sei es zu kalt gewesen, deshalb habe er die Ruine wieder verlassen, um sich ein anderes Nachtlager zu suchen.
«Arbeitsscheuer Vagant»
Die Leumundserhebungen warfen ein schiefes Licht auf Walter Gross. Er war als «arbeitsscheuer Vagant» aktenkundig. Sein Geld verdiente er als Fabrik- und Hilfsarbeiter. Seit Februar 1956 war Gross in Baden. Das Urteil seiner Bekannten über ihn zeigte eine grosse Spannweite. Doch in einem Punkt waren sie sich einig: Niemand hatte ihn als gewalttätig erlebt. Nach Pfingsten hatte Walter Gross eine neue Stelle in Davos antreten wollen. Stattdessen landete er im Bezirksgefängnis im Badener Stadtturm.
Der Mordfall Bätscher war der letzte grosse Prozess, der im Kanton Aargau nach der Strafprozessordnung von 1858 in einem klassischen Schwurgerichtsverfahren behandelt wurde. Zwölf Geschworene, juristische Laien aus unterschiedlichsten Berufen, hatten einen «Wahrspruch» zu fällen: Sie mussten per Mehrheitsentscheid darüber befinden, ob Walter Gross des Raubs und des Mords schuldig war – ja oder nein. Gross beteuerte im Prozess im Sommer 1959 in Aarau erneut seine Unschuld. Staatsanwalt Walter Real bezog klar Position: «Alle belastenden Indizien beweisen im Zusammenhang eindeutig, dass nur Gross Bätscher beraubt und getötet haben kann. Die Täterschaft eines anderen muss praktisch ausgeschlossen werden.»
Einen Kernpunkt der Anklage lieferten der Gerichtsmediziner Ernst Hardmeier und der Kriminaltechniker Max Frei-Sulzer. Während Hardmeier Blutspuren an Schuhen, Hose und Hemd von Gross nachwies, kam Frei-Sulzer, der Leiter des Wissenschaftlichen Diensts der Stadtpolizei Zürich, in seiner Untersuchung zum Ergebnis, dass es sich bei den beiden aufgefundenen Brettstücken eindeutig um das Tatinstrument handeln musste. Bei der Spurenanalyse hatte er nicht nur Haare des Opfers identifiziert, sondern auch schwarze und rote Stofffasern der Kleidung von Gross – «alle drei mit ausgesprochenem Seltenheitswert». Das Gutachten des Experten gipfelte im Satz: «Gestützt auf dieses Gesamtspurenbild kommen wir zum Schluss, dass Walter Gross den Mord an Bätscher begangen hat.»
Verteidiger Louis Lang plädierte auf Freispruch. Er zweifelte das Expertengutachten von Frei-Sulzer an und verlangte eine Oberexpertise – erfolglos. Lang wandte sich mit einem bewegten Appell an die Geschworenen und machte auf diverse ungeklärte Punkte aufmerksam. Er verglich den Sachverhalt mit dem Film «Es geschah am helllichten Tag» nach Friedrich Dürrenmatt, der 1958 in die Kinos gekommen war. Darin nimmt die Polizei einen vorbelasteten und zufällig in eine Mordsache hineingeratenen Mann als vermutlichen Täter fest und behandelt ihn als Schuldigen.
«Besonders schwerwiegend fällt sein Leugnen in Betracht»
In der Tat hatte sich die Polizei in ihrem Untersuchungsrapport eine Woche nach Bätschers Tod nicht zurückgehalten: «Bei Gross Walter handelt es sich um eine liederliche, arbeitsscheue und gänzlich unzuverlässige Person. Gross darf ruhig als Lump bezeichnet werden. Moralisch ist derselbe tief gesunken. (…) Besonders schwerwiegend fällt sein hartnäckiges Leugnen in Betracht. (…) Anderseits versteht es Gross, an der Öffentlichkeit eher den Harmlosen zu spielen, während es sich in Wirklichkeit um einen Verbrecher handelt.»
Ob Mörder oder nicht – unschuldig war Gross also ohnehin nicht: Sein Lebenswandel verstiess gegen die bürgerliche Norm. Solch abweichendes Verhalten wurde bereits seit dem 19. Jahrhundert häufig mit dem Kategorienpaar «liederlich und arbeitsscheu» etikettiert – wobei sich Sozial- und Kriminalpolitik kaum voneinander trennen liessen.
Am 2. Juli 1959 sprach das Schwurgericht Walter Gross des Raubmords schuldig. Im September folgte das Strafmass: lebenslängliches Zuchthaus.
In den folgenden Jahren, die er in der Strafanstalt Lenzburg verbrachte, versuchte Gross immer wieder, einen neuen Prozess zu erreichen. Bewegung kam aber erst in die Sache, nachdem die Ringier-Zeitschrift «Sie und Er» im Herbst 1968 eine Reportage über Gross aus der Strafanstalt publiziert hatte. Die Coiffeuse Elisabeth Meier, genannt Bethli, meldete sich bei Gross und besuchte ihn fortan regelmässig. Das Paar verlobte sich, und sie unterstützte ihn bei seinen Bemühungen um Rehabilitation – auch finanziell.
«Sie und Er» berichtete nun regelmässig über den Gefangenen und nahm für ihn Partei. Als 1970 wieder ein solcher Artikel erschienen war, erhielt Walter Gross sogar einen Brief von einem Bundesrat. Dieser ermutigte ihn, weiter für einen Revisionsprozess zu kämpfen. Die Presse berichtete jetzt wohlwollend über den Verurteilten: War Gross nach dem Mord in den Medien und in der Öffentlichkeit vorverurteilt worden, drehte sich die öffentliche Meinung nun ins Gegenteil.
Der fatale Irrtum des Experten
Zum Revisionsprozess kam es, nachdem neue wissenschaftliche Gutachten ein vernichtendes Urteil über die Expertisen von 1958/59 gefällt hatten. Die neuen Sachverständigen kamen zum Schluss, dass es an den Kleidern von Walter Gross mit grosser Wahrscheinlichkeit kein Blut hatte. Nach den Tatumständen hätte sich der Täter aber fast unweigerlich mit Blut bespritzen müssen. Ein deutscher Experte bewies zudem, dass die Fasern, denen Max Frei-Sulzer 1959 grossen Seltenheitswert attestiert hatte, in fast jeder Probe aus Staubsaugerbeuteln von Haushalten in Wiesbaden zu finden waren.
Im Revisionsprozess räumte Frei-Sulzer ein, mit seiner Schlussfolgerung, Gross müsse der Täter sein, über das Ziel hinausgeschossen zu haben. Die Verantwortung schob er an die Aargauer Justiz sowie seinen ehemaligen Chef in Zürich ab, der darauf bestanden habe, im Gutachten die Schuldfrage mit einzubeziehen. Die verschiedenen Akteure hatten sich also gegenseitig im Glauben bestärkt, dass man den Schuldigen gefunden hatte. Frei-Sulzer sagte nun aus, man habe Gross als Täter nicht ausschliessen können, folglich müsse er es gewesen sein. Der Verteidiger quittierte diese Aussage unmissverständlich: «Ein solch primitiver Umkehrschluss ist in der Kriminalgeschichte wohl einmalig.»
«Klassisches Fehlurteil»
Der Mordfall Bätscher war damit endgültig zum Justizfall Gross geworden. Mit der Entzauberung des Experten war ein zentraler Teil der Anklage in sich zusammengefallen.
Der Freispruch kam vor diesem Hintergrund wenig überraschend. In der Urteilsbegründung führte Gerichtspräsident Beat Brühlmeier aus, das Geschworenengericht habe Gross nach dem alten Grundsatz «in dubio pro reo» (im Zweifelsfall für den Angeklagten) freisprechen müssen. Das Verdikt von 1959 sei ein «klassisches Fehlurteil».
Für Walter Gross blieb ein Schönheitsfehler. Es gab keinen Täter, der Fall blieb ein Rätsel. Gross wurde mangels Beweisen freigesprochen – nicht wegen erwiesener Unschuld.
Im Rückblick war klar, dass sich die Suche nach dem Täter zu früh auf Gross konzentriert hatte. Inzwischen schien es kaum mehr möglich, den Fall aufzuklären. Hätten die Untersuchungsbehörden die gegenseitigen Alibis von B. und W. genauer überprüfen müssen, jener laut Polizeibericht «arbeitsscheuen und übel beleumdeten Personen», die Gross am Bahnhof zusammen mit Bätscher gesehen hatten?
Oder hätten die Ermittler die Rolle der Brüder Sch. besser untersuchen sollen? Der eine hatte die Tatwaffe im Gebüsch entdeckt, der andere bei der Polizei ungefragt ausgesagt. Oder hatten die Untersuchungsbeamten die Suche nach den beiden Italienern zu früh aufgegeben, die sich laut Walter Gross in der Tatnacht auf einer Sitzbank auf der Ruine aufhielten?
Wenige Monate nach seinem Freispruch heirateten Walter Gross und Bethli Meier. Bis zu seinem Tod 1989 lebten sie gemeinsam in Zug.
Dieser Text ist zuerst in einer längeren Version in der Publikation «Badener Neujahrsblätter 2024» im Verlag Hier und Jetzt erschienen.
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