Film über Pflegenotstand
Funktionieren – bis es nicht mehr geht

In Petra Volpes Kinofilm «Heldin» kämpft sich eine Pflegefachfrau in einem Schweizer Spital durch ihren viel zu strengen Spätdienst. Macht sie das zur Heldin? Unsere Autorin arbeitete in der Pflege und beschreibt, wie gefährlich es sein kann, wenn man überlastet ist.
Publiziert: 26.03.2025 um 09:57 Uhr
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Aktualisiert: 26.03.2025 um 09:59 Uhr
«Heldin»: Im Film spielt Leonie Benesch die Pflegefachfrau Floria Lind.
Foto: filmcoopi

Darum gehts

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Pia Wolfensberger
Pia Wolfensberger
Beobachter

«Können Sie bitte nachschauen, ob die Lesebrille meiner Mutter noch in der Nachttischschublade ist?», fragt die Stimme am Telefon. Als Zuschauerin möchte man aufstehen und schreien: «Sei still! Floria Lind hat jetzt Wichtigeres zu tun!» Aber Floria Lind, die Pflegefachfrau unter Hochdruck, machts. Sie macht alles irgendwie gleichzeitig.

Sie singt alte verwirrte Menschen in den Schlaf, schenkt den Kindern einer todkranken Mutter Süsses. Sie legt neue Zugänge, verteilt die Abendmedikamente, sie funktioniert. Ihre Stirn wird im Laufe ihrer Schicht, im Laufe des Films glänzend, sie schwitzt. Man schwitzt mit. Eine Patientin fragt sie gegen Ende ihres Dienstes: «Sind Sie morgen wieder hier?» Sie antwortet mit Ja.

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Beim Verlassen des Kinos treffe ich zufällig zwei Freunde, die den Film soeben auch gesehen haben. Wir sind uns einig: «Ui, uh schlimm, das war nicht gerade Werbung für den Pflegeberuf.» Und ich sage: Aber es ist doch auch ein bisschen geil, dieses Adrenalin. Das Gebrauchtwerden, das Rennen, das Kämpfen. Und dann der Feierabend, die Entspannung. Das sind intensive Gefühle. Andere müssen dafür aus Flugzeugen springen.

Adrenalin, Adrenalin

Aber was, wenn der morgige Dienst wieder so streng wird? Was, wenn Floria Lind wieder über ihre Grenzen gehen muss? Anja Blacha, eine Extremsportlerin, sprach im Fernsehen kürzlich über Belastungsgrenzen. Es brauche sehr lange, um wieder zu regenerieren, wenn man komplett ausgebrannt sei. Sie sprach nicht über Spätdienste in der Pflege, sondern über Bergaufstiege, aber letztlich geht es um das Gleiche.

Info

Pia Wolfensberger gab im Alter von 38 Jahren ihren Job als Redaktorin auf – zugunsten einer Ausbildung zur Pflegefachfrau mit Vertiefung Psychiatrie. Heute arbeitet sie ambulant bei einer psychosozialen Spitex-Organisation und nebenbei als Texterin einer kleinen Agentur.

Pia Wolfensberger gab im Alter von 38 Jahren ihren Job als Redaktorin auf – zugunsten einer Ausbildung zur Pflegefachfrau mit Vertiefung Psychiatrie. Heute arbeitet sie ambulant bei einer psychosozialen Spitex-Organisation und nebenbei als Texterin einer kleinen Agentur.

Das Herantasten an die Grenzen, die intensiven Gefühle, das macht Freude, da fühlt man sich lebendig, das ist vielleicht etwas, was viele doch im Pflegeberuf hält. Ich jedenfalls mochte es, wenn ich voller Adrenalin war. Als eine Kollegin und ich zu einem Notfalleinsatz auf einer anderen Station eilten, sagte ich zu ihr: «Es ist wie Sport, und wir sind ein Team.»

Wenig Personal, viel Verantwortung: Die Filmprotagonistin funktioniert einfach.
Foto: filmcoopi

Ein Oberarzt, der bei uns auf der Akutstation aushalf, sagte genervt und gestresst im Stationszimmer: «Wenn man einmal über die Grenze hinausgeht, gibt das einen Adrenalinkick. Aber wenn man immer wieder an seine Grenzen oder gar darüber hinausgeht, macht es krank.» Wenn man brennt, ist die Gefahr des Ausbrennens gross.

Gebraucht werden, verbraucht werden

Bei der Zürcher Premiere im Kino Le Paris waren Regisseurin Petra Volpe und ihr Team anwesend. Die Hauptdarstellerin Leonie Benesch wurde per Video zugeschaltet. Sie war krank. Das war natürlich ein Zufall, sie war stark erkältet.

Vor einiger Zeit schrieb ich einen Artikel über die irren Zustände in der Akutpsychiatrie. «Spätdienst an einem Dienstabend. Meine Kollegin und ich sind zu zweit.» So begann der Text. Ein Jahr nach Erscheinen des Artikels waren meine Kollegin und ich krank. Wir hatten keine Erkältung, wir fielen mit einem Burn-out aus, ich zuerst, dann sie.

Es mag Zufall sein, dass es uns beide traf. Dass aber Pflegefachkräfte ausbrennen, ist kein Zufall. Wir beide hatten ähnliche Symptome, klassische Stresssymptome wie Schlafstörungen, Ängste und Sorgen, die sich körperlich manifestierten und Bauch- und Kopfschmerzen sowie Verspannungen auslösten. Ob im Spital oder in einer psychiatrischen Klinik: Als Pflegefachkraft ist man des Öfteren nicht nur gefordert, man ist überfordert. Die Stirn glänzt, die Fassade bröckelt.

Du sollst nicht schaden

In einem Spital sind es eher somatische, also körperliche Gebrechen, mit denen man konfrontiert wird. In einer psychiatrischen Klinik wie der, in der ich als Pflegerin arbeitete, sind es eher psychische Auffälligkeiten. Aber in beiden Institutionen geht beides ineinander über.

Auch in einem Akutspital weinen Menschen, sind traurig, haben Angst, brauchen Zuspruch. Und in einer psychiatrischen Klinik gibt es Selbstverletzungen bis auf die Venen, da fliesst viel Blut. Oder man rennt durch die Gänge, um Traubenzucker und Fruchtsaft zu holen, weil jemand unterzuckert ist.

Alles geht ineinander über, der Mensch ist nun einmal Körper und Geist. Und vor allem ist der Mensch verwundbar. Macht man als Pflegefachfrau einen Fehler, stehen Menschenleben auf dem Spiel.

Floria Lind verwechselt im Kinofilm ein Schmerzmittel, es kommt zu einer allergischen Reaktion. Auch ich verwechselte schon Medikamente, zwei Antidepressiva, ich verabreichte Duloxetin statt Trittico. Es war abends, eigentlich hätte ich beim Rapport sein müssen, eine Patientin wollte ihre Nachtmedikamente schon, ich gab sie schnell heraus. Zu schnell. Unvorsichtig. Der Patientin war danach schwindelig, ich hatte ein schlechtes Gewissen und eine entsprechend schlechte Nacht.

«Der Mond ist aufgegangen»: Mit Singen versucht Floria Lind eine Patientin zu beruhigen.
Foto: filmcoopi

Fehler passieren, die passieren überall, auch in Banken und Agenturen, an Schulen und auf Baustellen. Überall können sie grosse Schäden anrichten, in der Pflege können Fehler Leben kosten.

Dass durch sogenannte nosokomiale Infektionen (Infektionen durch unsteriles Arbeiten) oder durch iatrogene Schäden (Schäden aufgrund ärztlicher Fehler) Mehrkosten entstehen, ist ein weiteres Feld. Ein zu weites Feld, um an dieser Stelle zu betreten. Aber es gibt vier ethische Grundprinzipien in der Pflege, eines davon heisst: «Du sollst nicht schaden.»

Christina Schumacher, stellvertretende Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) hat «Heldin» auch gesehen. In einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen meinte sie danach: «Fast 40 Prozent der Pflegenden steigen nach wenigen Jahren aus dem Beruf aus. Man spricht von moralischen Verletzungen: Wenn man immer wieder den Patienten nicht das geben kann, was nötig wäre, dann verletzt einen das moralisch – und das macht Pflegende kaputt.»

Wie in einem Film

Es gab Tage, an denen wir personell gut besetzt waren, Tage, an denen die Patientinnen und Patienten recht selbständig ihren Dingen nachgehen konnten, aber es gab auch andere Tage. Tage oder Dienste, an denen wir zu zweit für 20 herausfordernde Patientinnen und Patienten zuständig waren.

Dass das streng war, ist das eine, andere Berufe sind auch streng. Was mich belastete, war, dass es gefährlich war. Und zwar für alle Beteiligten. «Gefährliche Pflege» nennt sich das im Fachjargon. Klar, es gibt die moralisch-ethischen Verletzungen, es gibt aber noch eine weitere Komponente: Angst. Ich war oft einfach froh, dass es keine Verletzten gab. Oder noch drastischer: keine Toten.

Verletzte gab es relativ oft. Man kann leider auch in einer Klinik nicht verhindern, dass sich Menschen selbst verletzen. Oft kam ich mir vor wie in einem Film, aber ich wusste: Nein, nein, das ist Realität.

In der NZZ erschien eine kritische Rezension der «Heldin». Da hiess es, der Film stelle Spitalsituationen wie in einem Dokfilm nach – und wolle doch fiktionales Kino sein. Es schmerzt und irritiert tatsächlich, dass Film und Realität so nah beieinanderliegen. Ich dachte im Kino: Das ist wie in echt. Und in echt dachte ich manchmal: Das ist wie im Kino.

Das passiert, wenn die Situation das Mass an Erträglichem überschreitet, wenn es beinah ins Absurde kippt. Zum Beispiel, wenn ein Patient die Augen verdreht und anfängt zu knurren und bellen wie ein Hund. Wie in einem Film eben.

Solche Situationen machen Angst. Ich arbeitete als Psychiatriepflegerin in einem hübschen Neubau, alles ganz modern, aber die Dämonen bleiben Dämonen. Menschen leiden manchmal sehr. Es gibt zwar Medikamente, meistens nützen sie etwas, aber nicht immer. Manchmal wird nicht alles wieder gut. Ganz ehrlich: Manchmal wird es immer schlimmer und schlimmer, und die Menschen nehmen sich das Leben, weil sie es nicht mehr aushalten. Herr W., den ich in meinem letzten Artikel erwähnte, tigert nicht mehr durch die Gänge. Er hat sich erhängt. Das müssen dann die Angehörigen aushalten. Und wir. Auch das macht müde.

Wir alle sind Patienten

Pech gehabt? Augen auf bei der Berufswahl? Sicher. Der Privatpatient im Film von Regisseurin Petra Volpe ist zwar unsympathisch. Aber er hat ja recht, wenn er sich beklagt, wenn er zwei Stunden auf einen Tee warten muss. Und der ältere Herr hat ja recht, wenn er das Spital fluchtartig verlässt, weil er vergessen wird. Und die Söhne der Verstorbenen haben ja recht, wenn sie bemängeln, dass nie jemand nach ihrer Mutter sah.

Ist das Bild, das der Film zeichnet, real? Floria Lind allein in der Garderobe
Foto: filmcoopi

Es ist also nicht einfach ein Problem von Menschen, die da durch die Gänge rennen, nein, es betrifft alle. Es betrifft Sie und dich und deine Mutter und Ihren Sohn und dein Grosi sowieso. Ich liess manchmal Patienten mitten in einer Panikattacke allein. Ich hatte keine Zeit für sie.

Menschen in einer schweren Depression täte es gut, wenn sie aktiviert und motiviert würden. Wenn jemand da wäre. Mit einem sanften Blick und einem weichen Herz. Wir liessen die Patienten oft in ihren Zimmern sitzen. Man kann sich nicht vierteilen. Das ist es, was Christina Schumacher mit moralischen Verletzungen meint: Man gibt alles, kann aber den Anforderungen der Patientinnen und Patienten immer wieder nicht gerecht werden.

Die Pflege braucht Pflege

Ist nun also Floria Lind eine Heldin, wie der Titel des Films suggeriert? Natürlich ist sie eine. Gleichzeitig ist sie auch eine Antiheldin, weil sie nichts sagt. Weil sie einfach funktioniert, bis sie eben nicht mehr funktioniert.

Dass das Gesundheitswesen hinkt und krankt, merken die, die darin arbeiten. Aber auch die Patientinnen und Patienten merken es. Das wiederum merken die, die darin arbeiten. Ein Teufelskreis, der zu Frust und Verzweiflung führt. Und zu Burn-outs am laufenden Band. Müssig, hinzuzufügen, dass genau diese Krankschreibungen zu noch grösserem Personalmangel führen.

«Heldin» beginnt damit, dass Floria Lind ihre neuen Sportschuhe auspackt und zu ihrer Kollegin sagt, dass sie sie im Ausverkauf erstanden hat. Sie hat also einen Job, in dem sie rennen muss und zu wenig Geld verdient. Geld ist kein hübsches Zauberwort, aber ehrlich: Eine monetäre Wertschätzung, das heisst, ein gerechter Lohn, von dem man auch mit einem 80-Prozent-Pensum leben kann, bringt den Pflegefachleuten tatsächlich mehr als heldenhafte Bezeichnungen. Und mehr als Applaus. Obwohl wir den verdienen.

Info

Pia Wolfensberger gab im Alter von 38 Jahren ihren Job als Redaktorin auf – zugunsten einer Ausbildung zur Pflegefachfrau mit Vertiefung Psychiatrie. Heute arbeitet sie ambulant bei einer psychosozialen Spitex-Organisation und nebenbei als Texterin einer kleinen Agentur.

Pia Wolfensberger gab im Alter von 38 Jahren ihren Job als Redaktorin auf – zugunsten einer Ausbildung zur Pflegefachfrau mit Vertiefung Psychiatrie. Heute arbeitet sie ambulant bei einer psychosozialen Spitex-Organisation und nebenbei als Texterin einer kleinen Agentur.

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