Die Sommersonne bringt es an den Tag: Auf Badewiesen, an Sandstränden oder bei Hotelpools breiten sich Frotteetücher platzdeckend aus. Waren das früher hüftumschliessende Stoffe, sind es heute mannslange Laken. Platz da, jetzt komme ich – der neue Egoismus inmitten der Masse. Wie wenn dem nicht genug wäre, versperren neuerdings noch aufgepumpte Flamingos und Einhörner den Weg zum kühlenden Nass.
Wir leben in einer aufgeblasenen Gesellschaft mit viel heisser Luft drin. Was sich dieser Tage exemplarisch beim Baden beobachten lässt, gilt für viele Bereiche: Wir brauchen mehr Wohnraum, haben grössere Möbel, machen uns im öffentlichen Verkehr breiter und fahren in dickeren Schlitten rum. «Alles viel zu eng», seufzte unlängst der SonntagsBlick angesichts der Parkplatznot mit übergrossen Autos. Es ist aber nicht so, dass der Raum knapp wird – wir haben immer noch genug Platz. Doch gewisse Menschen beanspruchen für sich einfach mehr davon.
Wir leiden unter dem Alice-in-Wonderland-Syndrom
Man kann von einem Alice-in-Wonderland-Syndrom sprechen: Als die berühmte Kinderbuchfigur in der Wohnung des Kaninchens heimlich ein Fläschchen halb leer trinkt, wächst sie sofort. «Sie wuchs und wuchs und musste sehr bald auf den Fussboden niederknien; den nächsten Augenblick war selbst dazu nicht Platz genug, sie legte sich nun hin, mit einem Ellbogen gegen die Tür gestemmt und den anderen Arm unter dem Kopfe.» Eine ziemlich unbequeme und unbefriedigende Lage, in die sich das Mädchen manövriert hat.
Unzufrieden sind auch viele Schweizerinnen und Schweizer, die in irgendeiner Form unter dem Alice-in-Wonderland-Syndrom leiden. Sie fahren die Ellbogen aus, plustern sich auf und haben das Gefühl, um sie herum werde alles enger. Gewiss: Im Jahr 1900 zählt die Schweiz 3,3 Millionen Einwohner, heute sind es 8,4 Millionen. Vor 100 Jahren misst der durchschnittliche Eidgenosse 164 Zentimeter, heute 178 Zentimeter.
Doch seit Anfang der 1990er-Jahre nimmt dieser Durchschnittswert nicht mehr zu. Und während die Zahl der Gesamtbevölkerung von 1950 bis 1970 um satte 32,9 Prozent gestiegen ist, hat sie in den 2000er-Jahren bloss um 16,6 Prozent zugenommen. Doch es ist ausgerechnet diese Zeit seit der Jahrtausendwende, in welcher der Begriff «Dichtestress» aufkommt. Ende 2013, Anfang 2014 vergeht keine Debatte im Abstimmungskampf um die Masseneinwanderungsinitiative der SVP, in der nicht dieses Schlagwort fällt.
Die Befürworter suggerieren, dass es mit neuen Zuzügern nervtötend eng wird – eine Argumentation, die vor allem in bevölkerungsarmen Kantonen wie Appenzell Innerrhoden verfängt, während dicht besiedelte Städte wie Basel, Genf oder Zürich deutlich Nein zur Initiative sagen.
«Ach, hören Sie doch auf mit der Klage über Dichtestress», sagt SBB-Chef Andreas Meyer (57) nach der Annahme der Initiative in einem Interview. «Wenn in einem Viererabteil schon nur zwei Personen sitzen, haben viele Kunden das Gefühl, sie seien in einem vollen Zug.»
Tatsächlich zeigt sich das Alice-in-Wonderland-Syndrom im öffentlichen Verkehr besonders deutlich und sorgt unter den Stichwörtern Manspreading und Shebagging immer wieder für Schlagzeilen.
Männer im ÖV sitzen da wie die Herrscher der Welt
Manspreading setzt sich aus dem englischen Substantiv «man» für «Mann» und dem Partizip des Verbs «to spread» für «spreizend» zusammen. Der Begriff beschreibt das Phänomen breitbeinig in Bahn, Bus und Tram sitzender Männer, sodass niemand neben ihnen Platz nehmen kann. Shebagging ist die weibliche Variante des Sich-Aufplusterns im ÖV: Sie setzt ihre Tasche («bag») neben sich und besetzt damit zwei Plätze. Ein Manspreader und eine Shebaggerin reichen also, schon ist ein Viererabteil voll.
Für Manspreading gibt es mittlerweile abstruse wissenschaftliche Erklärungen. Eine besagt, bei eng zusammengehaltenen Beinen bekämen die Hoden zu warm, die strammen Oberschenkel könnten sie gar zerdrücken. In einer anderen Studie aus dem Jahr 2016 haben zwei US-Forscher errechnet, dass bei Männern die Schultern im Schnitt 28 Prozent breiter seien als die Hüfte (bei Frauen nur drei Prozent). Um Stabilität zu wahren, müssten Männer breitbeinig thronen.
Man stelle sich vor, wenn es anders wäre: Die gesittet dasitzenden Herren der Schöpfung würden bei jedem Ruck des Fahrzeugs ins Wanken kommen und wie Dominosteine von den Sitzen kippen. Angesichts eines breitbeinig hingefläzten Nachbarn im Tram fragt die Schweizer Regisseurin Katja Früh (65) in einer kürzlich erschienen Kolumne ironisch: «Vielleicht ist es ja ein verarmter Cellospieler, und dies ist seine normale Berufshaltung?»
Sie fühle sich klein und eingezwängt, schreibt sie weiter und macht ihren Text zu einem offenen Brief an den Rüpel: «Es stört mich, wenn Sie so dasitzen, wie wenn Sie der Herrscher der Welt wären.» Mit der Hitler-Parodie aus dem Spielfilm «The Great Dictator» macht die Tokyo Metro bereits 1976 drastisch auf Manspreading aufmerksam: Charlie Chaplin hockt als Führer mitten auf dem Plakat des japanischen Grafikdesigners Hideya Kawakita (71), stemmt seine schwarz gewichsten Reiterstiefel weit auseinander, schaut herrisch auf den Betrachter und drückt beidseits je einen devot dreinblickenden Chaplin-Tramp an den Rand. Das sitzt.
Die Japaner haben früh gelernt, mit wenig Platz auszukommen
Tokio ist heute mit 38 Millionen Einwohnern die grösste Metropol-Region der Welt. Täglich benutzen rund 8,5 Millionen Personen die U-Bahn. Da kann es eng werden – legendär die sogenannten Oshiya (Drücker), die an bestimmten Stationen die Passagiere in die Waggons pressen. Da ist kein Platz für Manspreading oder Shebagging.
Während in der Schweiz aktuell 205 Menschen auf einem Quadratkilometer leben, sind es im Land der aufgehenden Sonne 348 (in Tokio gar 2744). Die Japaner haben früh gelernt, mit weniger Platz auszukommen. Sie sind bescheiden, diszipliniert und höflich. Die sprichwörtliche japanische Gelassenheit zeigt sich auch, wenn Passagiere die U-Bahn wieder verlassen: Die Einsteigewilligen stehen bei den Türen Spalier und lassen die Rauskommenden gehen. Gesittete Menschenströme verlassen die Stationen.
In der Schweiz stehen demgegenüber die Menschentrauben schon ungeduldig vor den Türen einfahrender Züge und erzeugen so ein künstliches Dichtegefühl. Die ankommenden Passagiere müssen sich rausschlängeln. Eine Konfrontation, die man bei uns immer häufiger auch auf schmalen Trottoirs hat: Wenn einem nebeneinander laufende Personen entgegenkommen, muss man eher auf die Strasse ausweichen, als dass diese Personen kurz hintereinander laufen. Wir machen uns breit – nicht nur einzeln, sondern selbst in Gruppen.
Schweizer verhalten sich entgegen jeglicher physikalischer Gesetzmässigkeit: Wird es enger und geraten sie unter Druck, dehnen sie sich aus. Chemische Verbindungen, die gepresst grösser werden, haben Forscher des amerikanischen Brookhaven National Laboratory zusammen mit der britischen University of Birmingham erstmals 2001 entdeckt. Und letztes Jahr hat das Fachmagazin «Applied Physics Letters» berichtet, dass ein Team des Karlsruher Instituts für Technologie dran ist, ein Material zu entwickeln, das sich unter Druck ausdehnt. Noch existiert es ausschliesslich als Computersimulation.
SUV-Boom – insbesondere in urbanen Gegenden
Oder eben als Anschauungsobjekt auf Schweizer Strassen. Da machen sich nicht bloss Menschen breit, auch Autos sind bei dichterem Verkehr gewachsen. Der seit den 1990er-Jahren andauernde Boom der Sportnutzfahrzeuge, der sogenannten Sport Utility Vehicles (SUVs), sorgt für durchschnittlich zwölf Zentimeter breitere Limousinen. Ob VW, Ford oder Dacia – jeder Hersteller hat seine Modelle in den letzten Jahren aufgepumpt. Im Sog des SUV-Erfolgs ist selbst das Urmodell des VW Golf von 1974 heute 55 Zentimeter länger und fast 19 Zentimeter breiter.
Im Juni 2018 sind fünf der zehn meistverkauften Autos in der Schweiz SUVs – der VW Tiguan vorneweg, gefolgt vom Mercedes-Benz der GLC-Klasse und dem BMW X1. Dabei kommen die Geländefahrzeuge nicht etwa primär in Gebirgskantonen zum Einsatz, sondern vornehmlich im urbanen Umfeld von Zug, Zürich oder Genf.
«Ich wundere mich immer wieder darüber, wie irrational die Leute entscheiden: Sie kaufen Autos, die auf keinen genormten Parkplatz passen», sagt der deutsche Mobilitäts-Psychologe Rüdiger Hossiep (59) neulich in einem Interview. «Und vielen wird in einem SUV übel, weil der stärker schwankt als niedrigere Fahrzeuge – trotzdem fahren sie damit.» Der Siegeszug verlaufe gegen alle Rationalität.
«Das SUV ist das Fahrzeug des Eskapismus», sagt der Kölner Autodesignprofessor Paolo Tumminelli (53). Mit voluminösen, gepanzerten Wagen kaufen sich die Schweizer im engen Stadtverkehr ein grosses Stück Privatraum, das ihnen niemand nehmen kann und wohin sie sich zurückziehen können. Die Fahrer fühlen sich in der Öffentlichkeit schon wie zu Hause.
Daheim nehmen sie sich gleich nochmals ein grosses Stück raus: Beansprucht ein Schweizer 1970 durchschnittlich 27 Quadratmeter Wohnfläche für sich, sind es 1980 bereits 34 und 2014 schon 45. Und das geräumige Haus bestückt man heute mit XXL-TV-Bildschirmen und Riesensitzmöbeln – längst hat man sich von schmalen Biedermeiersofas verabschiedet und sich für bettgrosse Liegecouchs entschieden.
Wir brauchen neue Welten oder müssen die Luft rauslassen
Ja, wir leben auf grossem Fuss. Entsprechend ist der ökologische Fussabdruck der Schweiz riesig: Wenn global alle so leben würden wie wir, bräuchte es fast drei Erden. «Wir werden wie Riesen sein, uns wird die Welt zu klein», singt der deutsche Liedermacher Heinz Rudolf Kunze bereits 1985 in seinem Hit «Dein ist mein ganzes Herz».
Dann müssen wir uns aber nicht wundern, wenn wir wie der Titelheld aus Jonathan Swifts Roman «Gullivers Reisen» enden. Der legt sich in Liliput für einen Schlummer ins Gras, danach kommt das böse Erwachen. «Ich versuchte aufzustehen, aber ich war ausserstande, mich zu rühren; denn da ich auf dem Rücken lag, so entdeckte ich, dass meine Arme und Beine auf beiden Seiten kräftig an den Boden gefesselt waren.» Festgezurrt von den Liliputanern, die sich vor Gullivers Grösse fürchten – Widerstand vergeblich, sonst regnet es Pfeile.
Gulliver verlässt Liliput bald wieder. Und uns aufgeblasenen Riesen wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als eine andere Welt zu suchen. Oder die heisse Luft rauszulassen.