«Halten Sie sich mit Alkohol zurück.», «Bewahren Sie auch auf der Tanzfläche Contenance und leben Sie nicht mit wilden Verrenkungen Ihr Temperament aus.» Das sind Tipps eines deutschen Unternehmens für Weihnachtsfeiern.
Am Morgen danach frage ich mich, ob ich beide Tipps hätte befolgen sollen.
Solche Knigges für geschäftliche Weihnachtsessen kommen ja nicht von ungefähr. Denn diese Feste haben das Potenzial, auszuarten, um es mal so salopp zu formulieren. Das ganze Jahr über hat man sich abgerackert, im letzten Monat kommt noch der Endspurt – da darf man sich ja mal was gönnen. Sich belohnen, die ganze Anspannung loswerden, auch wenn man irgendwann vielleicht an den unvermeidbaren Punkt kommt, dass man sich gehenlässt.
Und so ist es also 10 Uhr abends, und ich tanze, springe und singe das Jahr 2023 weg, in einer grölenden Menschenmenge vor einem Bildschirm, über den Karaoke läuft. Ich bin nüchtern, die anderen eher nicht. Es gibt keine schlechten Lieder an diesem Abend, es gibt keinen schlechten Tanzstil. Je lauter, desto besser, der Rest ist egal.
Am nächsten Morgen ist alles anders
Der nächste Morgen. Alles ruhig. Alle arbeiten, tippen. Ich schaue mich um. Ständig blitzen Szenen der letzten Nacht vor dem geistigen Auge auf. Ich sehe all diese Leute, mit denen ich mir am Abend zuvor gefühlt die Seele aus dem Leib geschrien habe und in der sentimental ergriffenen Masse hin und her wogte. Als gäbe es kein Morgen. Aber der Morgen ist jetzt. Meine Güte, ist es still hier.
Ich bin verunsichert. Begrüsse ich die Leute, die gestern neben mir im Getümmel auf der Sing- und Tanzfläche standen? Wirft man sich so bestimmte Blicke zu – «ich weiss, du weisst …»? Klopft man sich freundschaftlich auf die Schultern, so, wie man das ab und zu mit Freunden tut, wenn man sich an gute gemeinsame Erlebnisse erinnert?
Oder tut man so, als würde man sie noch immer nicht wirklich kennen und hält sich im Interaktionen zurück, so, als wäre nichts gewesen? Und was ist mit den Vorgesetzten, deren Tanzbeine am Abend vorher auch nicht still blieben? Wie genau haben die geschaut, wie ihre Angestellten Spice Girls gesungen und zu Backstreet Boys getanzt haben? Soll ich mich erklären?
Wieso gibt es eigentlich keine Knigges für den Morgen nach der Weihnachtsfeier?
Ich gehe also einfach zur Kaffeemaschine, setzte mich danach still, wie alle anderen, an den Computer, arbeite. Und tue so, als wäre ich nicht die Person von gestern Nacht.
Bis zur nächsten Weihnachtsfeier.