Daniel Arnet bittet um Anstand im öffentlichen Raum
Macht dem Spuck-Spuk ein Ende!

Vor 140 Jahren tabuisierte eine Entdeckung das Speien, doch mittlerweile hat es den öffentlichen Raum zurückerobert. Spucken wir bald auch auf Zimmerböden wie im Mittelalter? Ein Einspruch.
Publiziert: 06.05.2023 um 10:31 Uhr
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Ob der Schweizer Granit Xhaka …
Foto: Sven Thomann
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Da bleibt die Spucke weg: Wenn Ende Mai mit der Schweizer Fussball-Meisterschaft Schluss ist und das Land Anfang Juni den Cupsieger 2023 hat, dann müssen die Platzwarte wieder mit der Bewässerung der Spielrasen beginnen. Bis dahin übernehmen die Fussballer diesen Job, «die Könige der Spuckerei» («Tageszeitung»).

Was an der Fussball-WM 1990 mit dem Spuck-Eklat des Niederländers Frank Rijkaard (60) in die Locken des Deutschen Rudi Völler (63) erstmals für Schlagzeilen sorgte und an der Europameisterschaft 2004 mit der Speuz-Affäre von Alex Frei (43) gegen den Engländer Steven Gerrard (42) eine Schweizer Dimension bekam, das richtet sich seither als Frustrotzen gegen den Rasen.

Via TV vielfach verbreitet, verlagert sich das Spucken vom Grün aufs Grau: Auf dem Asphalt glänzen heute alle paar Meter feuchtfrische Speichelreste. Und längst sind es nicht mehr nur Fussballer, die auf die Strassen speien – es hat sich zum Volkssport entwickelt. Oder müsste man eher sagen rückentwickelt? Denn es ist noch nicht lange her, da sabberten die Menschen in aller Öffentlichkeit.

Im Mittelalter war es üblich, sogar in Räumen auf den Boden zu spucken. Und zu Beginn des 16. Jahrhunderts sagte der Philosoph Erasmus von Rotterdam (1467–1536): «Das Herunterschlucken von Speichel ist eine Unsitte.» Erst die Entdeckung des Tuberkelbazillus 1882 durch den deutschen Mediziner Robert Koch (1843–1910) machte die Spucke nicht nur ekel-, sondern auch krankheitserregend.

Ein halber bis anderthalb Liter Speichel täglich

Tröpfcheninfektion ist seither auch bei Viruserkrankungen wie Grippe oder Corona bekannt, nicht aber bei Aids. Trotzdem verbreitet der rechte Zürcher Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis (VPM) die Mär in den frühen 1990er-Jahren und verunsicherte damit viele Menschen.

Sogar das Hamburger Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» berichtete vor dreissig Jahren in einem Artikel: «So trauten sich Schweizer Kinder, den Berichten ihrer Eltern zufolge, nach einer VPM-Lektion über die Seuche nicht mehr, den eigenen Speichel zu schlucken, weil darin ‹Tierli› enthalten seien.»

Dabei ist Speichel lebensnotwendig: Ohne ihn könnten wir nicht schlucken, schmecken oder sprechen. Einen halben bis anderthalb Liter wässrige bis schleimige Flüssigkeit produzieren die Ohr-, Unterkiefer- und Unterzungenspeicheldrüse täglich und befeuchten so unsere Mundhöhle. Zu 99,5 Prozent besteht der Speichel aus Wasser, daneben aus Calcium- und Phosphat-Ionen sowie Proteinen.

Drinnen allgegenwärtig, draussen widerwärtig – keiner bringt den Gegensatz besser zur Sprache als der deutsche Dichter Jean Paul (1763-1825): «Wein, Bier, Likör, Brühe, kurz nichts ist uns so rein, so einheimisch und so zugeartet und bleibt so gern tagelang (was nichts Fremdes kann) in unserm Munde als etwas, wovon der Besitzer, wenn es heraus wäre, keine halbe Teetasse trinken könnte – Speichel.» Also: Schön im Mund behalten und hinunterschlucken.


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