Ich mag schöne Landschaften. Was bietet sich da besser an als eine Reise zur See, bei der man das Panorama an sich vorbeiziehen lässt, ganz bequem von einem schönen Sessel auf Deck aus? Eine Rentnerreise. Ruhig. Dachte ich.
Der Trip wird darin münden, dass ich obsessiv über Schiffe in Stürmen und Evakuierungen auf hoher See recherchiere.
Aber es beginnt gut. In Kristiansund, Norwegen. Die MS Nordkapp läuft in den Hafen ein. Menschen an Bord und an Land winken sich zu, Leinen werden vom Schiff geworfen und am Quai vertäut.
Die MS Nordkapp ist eines von 14 Schiffen der Hurtigruten, der «schnellen Route». 1893 legte das erste Hurtigruten-Postschiff ab, um Briefe und Waren entlang der norwegischen Küste auszuliefern. Heute sind die Hurtigruten Fracht-, Passagier- und Kreuzfahrtschiffe in einem.
Kreuzfahrten sind ein Millionengeschäft
Hurtigruten-Reisen sind beliebt, Kreuzfahrten allgemein boomen. Laut dem Handelsverband für Kreuzfahrtschiffe, der Cruise Lines International Association (CLIA), sind sie einer der am schnellsten wachsenden Zweige der Tourismusbranche.
Die Schweizer Reederei MSC ist eines der grössten Kreuzfahrtunternehmen der Welt. Schweizer Passagiere würden mittlerweile beinahe gleich häufig wie vor der Pandemie MSC-Reisen buchen, schreibt die Reederei auf Anfrage. «Für 2024 sehen wir sogar einen Trend, der über dem Niveau von 2019 liegt».
Bei Schweizer Reisenden seien diesen Sommer besonders Kreuzfahrten im Mittelmeer beliebt. Gleich hinter dem Mittelmeer folgt Nordeuropa – mit den norwegischen Fjorden – als Lieblingsziel.
Die Schweizer Reederei MSC ist eines der grössten Kreuzfahrtunternehmen der Welt. Schweizer Passagiere würden mittlerweile beinahe gleich häufig wie vor der Pandemie MSC-Reisen buchen, schreibt die Reederei auf Anfrage. «Für 2024 sehen wir sogar einen Trend, der über dem Niveau von 2019 liegt».
Bei Schweizer Reisenden seien diesen Sommer besonders Kreuzfahrten im Mittelmeer beliebt. Gleich hinter dem Mittelmeer folgt Nordeuropa – mit den norwegischen Fjorden – als Lieblingsziel.
Allein 2023 sollen 31,5 Millionen Passagiere eine Kreuzfahrt unternehmen. Und gerade bei Schweizerinnen und Schweizern sind Kreuzfahrten beliebt, wie ein europäischer Vergleich des Onlineportals Statista zeigt.
Auch mein Freund und ich sind Teil dieser Statistik. Zusammen gehen wir an Bord der MS Nordkapp. Wir haben eine Kabine mit Doppelbett gebucht, für eine Nacht. Für mich geht ein kleiner, wenn auch verpönter Traum in Erfüllung.
Zwischen Schiff-Scham und Verzückung
Kreuzfahrten sind in Bezug auf die Umwelt eine der dreckigsten Arten zu reisen. Feinstaub aus Abgasen belastet die Menschen in den Hafenstädten und die Natur. Unter Wasser leiden die Tiere wegen des Motorenlärms. Und auch modernere, mit dem Flüssiggas LNG betriebene Schiffe sind schlecht für die Umwelt. Sie stossen Methan aus, teils unverbrannt. In dieser Form ist es um ein Vielfaches schädlicher als CO2.
Hinzu kommen die oft miserablen Arbeitsbedingungen für die Schiffsangestellten, die im Housekeeping oder Service arbeiten und oft in Asien rekrutiert werden. Sie erhalten teils Stundenlöhne von zwei Euro. Bei den Hurtigruten ist das eher unwahrscheinlich, denn diese fahren unter norwegischer Flagge, somit haben die Angestellten Anspruch auf norwegische Arbeitsbedingungen. Andere Unternehmen lassen ihre Schiffe etwa unter italienischer Flagge fahren – mit entsprechenden Abstrichen für die Angestellten.
Vorerst üben wir uns aber dennoch in Verzückung. Wir betreten die Kabine. Das Bett: perfekt. Das Bad: blitzblank. Schönes Farbkonzept mit Holzakzenten, intelligent geplanter Stauraum. Und durchs Fenster freie Sicht aufs Meer.
Und dann hing einer über der Reling
Pünktlich geht es los. Die MS Nordkapp manövriert aus dem Hafen. Der Wind bläst so stark, dass man am Bug des Schiffs nicht mehr aufrecht stehen kann. Aber Sorgen mache ich mir keine. Ich habe Lust auf Abenteuer. Ich möchte endlich erleben, was ich in all den Reisedokus gesehen habe: imposante Natur, Freiheit und ein wenig Luxus.
Die Wellen schlagen an der Küste auf, weiss schäumend. Der Wind peitscht übers Wasser. Ich möchte das aus allen Perspektiven sehen, gehe die Fensterfront im Salon ab. Als ich von hinten durch den Raum nach vorn blicke, erschrecke ich. Der Bug hebt und senkt sich gewaltig. Und die Wellen werden immer höher.
Ich möchte es mir nicht eingestehen, aber die Angst kriecht in mir hoch.
Weil ich nicht weiss, was ich tun soll, gehe ich aufs WC. Dort sehe ich keine Wellen und auch nicht das schaukelnde Schiff. Ich versuche, mich auf die schöne Seite zu konzentrieren. «Arctic Pure», arktische Beeren und norwegische Birke. Riecht gut.
Wieder im Salon suche ich meinen Freund. Mein Magen beginnt, seltsame Geräusche zu machen. Wir versuchen, etwas an die frische Luft zu gehen. Schwierig. Mittlerweile schwankt das Schiff so stark, dass wir uns überall festhalten müssen, um nicht hinzufallen.
Draussen wankt neben uns ein Teenager zum Geländer und übergibt sich. Wir stehen in der Windrichtung. Ich kann ausweichen. Mein Freund schafft es nicht mehr rechtzeitig. Rund 30 Prozent der Passagiere werden laut Fachportalen seekrank.
Wir suchen den Weg in unsere Kabine. Ich nehme den Fahrstuhl. Um mir zu beweisen, dass die Situation noch nicht so schlimm ist, dass man den Lift abstellen müsste.
Blanke Angst – Widerstand zwecklos
In der Kabine gehe ich duschen. Sperre das Meer aus. Frisch geduscht überkommt mich die blanke Angst. Draussen ist die See jetzt wirklich wild. Das Wasser spritzt am Bullauge vorbei. Von unten hören wir ein lautes, dumpfes Rumpeln, dann folgt ein gewaltiges Zittern.
Und während sich die 123,3 Meter Schiff ächzend durch die Wellen pflügen, ziehe ich mir die Bettdecke über den Kopf und beginne zu heulen. Mein Freund versucht, mich zu beruhigen – zwecklos. Meditationsapp – zwecklos.
Uns beiden wird immer übler. Auf unsere Körper scheinen gewaltige Kräfte einzuwirken. Mal werden wir in die Matratze gedrückt, dann befinden wir uns gefühlt im freien Fall.
Google Maps. Noch fast zwei Stunden bis zum nächsten Hafen. Ich schwör, ich steige aus.
Derweil im Schiffsrestaurant: Die Senioren sind beim Dinner. Als das Meer ruhiger wird, haben die einen gerade fertig gegessen.
Am folgenden Morgen: Raus an die frische Luft! Raucherlounge. Wärmelampe. Horizont fixieren. Mich nicht übergeben. Die Senioren: beim Frühstück. Gipfeli, Speck, Eier, Orangensaft. Über den Lautsprecher eine Durchsage des Kapitäns: «Gestern haben uns Wellen von bis zu sechs Metern begleitet.»
Es ist, als wären diese Wellen in meinen Körper übergegangen. Als wir am Zielhafen Bergen wieder festen Boden unter den Füssen haben, schwankt dieser gefühlt einfach weiter. Sobald ich mich hinlege, spüre ich den Druck und den freien Fall – und die Angst. Drei Tage lang wird das noch so gehen.
Derweil habe ich das Bedürfnis, meine Erfahrung einzuordnen. War es wirklich so schlimm? Ich setze mich an den Laptop und recherchiere. Zuerst die Youtube-Suche: «Cruise ship high waves.»
Kreuzfahrtschiffe sind generell sicher, aber …
Ferienschiffe in elf Meter hohen Wellen. Gigantisch. Wasser bricht über den Bug des Schiffs herein. Wasser strömt in die Salons. Die Menschen sitzen und liegen völlig fertig in den Gängen, das Personal versucht mit Lappen, Badetüchern, T-Shirts und Besen, das Wasser im Innern des Schiffs zu stoppen. Die Bar völlig verwüstet, Glas geborsten, Möbel schlittern hin und her.
Dass Kreuzfahrtschiffe sinken, sei zwar möglich, komme aber selten vor, lerne ich in der ZDF-Doku «Achtung, Traumschiffe – Kreuzfahrt-Branche auf neuem Kurs». Und wenn es geschieht, dann meist durch Kollisionen oder wegen Feuer an Bord. Nicht wegen des Wetters, sagen Experten auf Fachportalen. Kreuzfahrtschiffe seien so gebaut, dass sie hohen Wellen und extremen Winden standhalten. 80 bis 90 Prozent der Schiffsunfälle seien auf menschliches Versagen zurückzuführen, sagt die Off-Stimme in der Arte-Doku «Sicherheit auf See».
Evakuierungen vom Kreuzfahrtschiff sind riskant
Anruf bei einem der Schiffsexperten aus den Dokus, Professor Stefan Krüger von der Technischen Universität Hamburg. «Wenn ich evakuieren muss, habe ich auf jeden Fall ein Problem», sagt er. Aus den TV-Beiträgen wird klar: Je nach Wetterbedingungen oder Lage des Schiffs – Schräglage etwa – sind Evakuierungen per Rettungsboot riskant bis unmöglich. Krüger gibt etwas Weiteres zu bedenken: «Die psychische Konstitution der Passagiere.» Bereits Übungen können zu Herzinfarkten führen.
Das Institut für Sicherheitstechnik/Schiffssicherheit in Warnemünde (D) sieht in den zunehmenden Mengen von Passagieren an Bord sogar das Hauptproblem für die Sicherheit von Kreuzfahrten. «Bei einer Havarie kann man den Tausenden Ängsten nicht beikommen, egal, wie weit die technische Entwicklung ist», schreibt Dana Meissner, Leiterin Forschung und Entwicklung, per E-Mail. Die Schiffe würden dennoch immer grösser.
«Deshalb darf der Fall einer Evakuierung nicht eintreten», so Experte Krüger. Einer der wichtigsten Fortschritte dahingehend: die «Safe Return to Port»-Regel. Seit 2010 müssen Schiffe so gebaut und ausgerüstet sein, dass sie möglichst selbst in den nächsten Hafen kommen, auch wenn sie beschädigt sind. Und je grösser das Schiff, desto höher die Sicherheitsanforderungen, sagt Krüger.
Kreuzfahrt ist die sicherste Art zu reisen
2019 inspizierten Experten für die deutsche Stiftung Warentest, darunter Kapitäne und Schiffsbetriebsingenieure, die Schiffe mehrerer grosser Kreuzfahrtreedereien. Ihr Urteil deckt sich mit jenem von Stefan Krüger. Er sagt: «Die Kreuzfahrt ist sehr sicher, wohl die sicherste Art zu reisen überhaupt.»
Dagegen stünde jedoch oft das Empfinden der Passagiere, so Krüger. «Ich fahre halt zur See, und da kann es passieren, dass ich in einen Orkan gerate oder eine Welle die Scheibe einschlägt. Das ist normal. Das ist kein Hotel an Land.» Also ein Problem der Anspruchshaltung.
Zudem sei da eine irrationale Risikowahrnehmung. «Menschen haben eine Urangst vor Wasser. Das ist aber ein psychologisches Problem, kein technisches.» Autofahrten sind, statistisch erwiesen, gefährlicher als Schiffsreisen bei 15 Metern Wellengang.
Das Telefonat mit Stefan Krüger und die Meinungen weiterer Fachpersonen beruhigen. Nach den Videos und Dokus bleibt dennoch ein Unwohlsein. Werde ich mich also noch einmal auf die Hurtigruten wagen – oder gar auf ein grösseres Schiff?
Laut Zahlen der CLIA: eher ja. 85 Prozent der Schiffsreisenden möchten erneut eine Kreuzfahrt unternehmen. Meine Generation, die Millennials, sind mit 88 Prozent gar enthusiastischer als der Durchschnitt.
Was bleibt also von meinem Kreuzfahrt-Traum? Grosser Respekt vor den im wahrsten Sinne des Wortes mit allen Wassern gewaschenen Rentnern. Grosser Respekt vor dem Meer. Und doch einige schöne Fotos, auf denen man nichts von der Angst an Bord sieht. Stattdessen wie versprochen: grandiose Natur, Abenteuer und ein Hauch von Luxus.