Auf einen Blick
Ausländerinnen und Ausländer werden nicht zwingend ausgewiesen, wenn sie schwere Delikte in der Schweiz begangen haben. Auch wenn es das Gesetz verlangen würde, ist eine Rückschaffung ins Herkunftsland nicht immer möglich. Oder die Täterinnen und Täter werden von Gerichten als Härtefall eingestuft und von einem Landesverweis verschont.
47 Prozent von 5500 Personen, die der Beobachter mit GfS Bern zu ihrem Gerechtigkeitsempfinden befragte, empfanden den Umgang mit kriminellen Ausländern als ungerecht. Ältere noch ausgeprägter als Jüngere, Männer häufiger als Frauen. Auch die formale Bildung hat einen Einfluss.
Mit dem Gerechtigkeits-Barometer ermittelt der Beobachter in Kooperation mit Coop Rechtsschutz ein Stimmungsbild, wie fair sich unterschiedliche Bevölkerungsgruppen behandelt fühlen und welche systematischen Ungerechtigkeiten es gibt. Aus dem Befund leiten wir ab, welche Massnahmen für mehr Gerechtigkeit getroffen werden müssten. Um Entwicklungen aufzuzeigen, wird die repräsentative Befragung jährlich im Herbst durchgeführt.
Das vollständige Gerechtigkeits-Barometer finden Sie hier.
Mit dem Gerechtigkeits-Barometer ermittelt der Beobachter in Kooperation mit Coop Rechtsschutz ein Stimmungsbild, wie fair sich unterschiedliche Bevölkerungsgruppen behandelt fühlen und welche systematischen Ungerechtigkeiten es gibt. Aus dem Befund leiten wir ab, welche Massnahmen für mehr Gerechtigkeit getroffen werden müssten. Um Entwicklungen aufzuzeigen, wird die repräsentative Befragung jährlich im Herbst durchgeführt.
Das vollständige Gerechtigkeits-Barometer finden Sie hier.
Deutschschweizer sehen eher ein Problem
Befragte mit einem tieferen Bildungsabschluss bewerten das Problem höher. Dagegen spielt das Einkommen weniger eine Rolle, auch wenn es besser Verdienende etwas öfter als Problem betrachten, wenn kriminelle Ausländer nicht ausgeschafft werden. Neben dem Röstigraben – Deutschschweizer nennen die Ungerechtigkeit häufiger – zeigt sich auch ein Unterschied zwischen deutsch und italienisch Sprechenden: Für Letztere scheint das Problem deutlich weniger brisant zu sein.
Wir haben mit Fachleuten aus Politik, Justiz und Migration über die Umfrageergebnisse gesprochen. Was sagen sie zum Gerechtigkeitsempfinden der Schweiz?
Beat Stauffer: «Chancenlose Asylsuchende tanzen den Behörden auf der Nase herum»
Maghreb-Experte Beat Stauffer zeigt Verständnis für das Ergebnis. Er bereist seit Jahrzehnten Nordafrika und schreibt über die Migration nach Europa. In seinem neuen Buch «Die Sackgasse der irregulären Migration» plädiert er für eine neue Flüchtlingspolitik.
«Das Ergebnis der Umfrage erstaunt mich nicht. Das Thema ist emotional stark aufgeladen. Die Empörung über Ausländer und Migrantinnen, die unsere Wertvorstellungen schlicht ignorieren oder gar bekämpfen, wächst. Und über jene, die ein Asylverfahren missbrauchen, um hier auf Diebestour zu gehen. Ich denke, es geht bei diesem Gefühl auch weniger um integrierte Ausländer, die irgendwann mal ein Delikt begehen.
Wir sollten die Migrationspolitik so verschärfen, dass Menschen ohne Bleibechancen nur noch verkürzte Verfahren durchlaufen. Während dieser Zeit sollte ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. Nur so lässt sich verhindern, dass die Verfahren für kriminelle Motive missbraucht werden.
Wer heute seine Herkunft verschleiert, indem er seine Papiere verschwinden lässt, kann im Durchschnitt weit über ein Jahr lang in der Schweiz bleiben. Hier zeichnet sich immerhin eine Verbesserung ab: Nächstes Jahr dürfen Handydaten von solchen Migranten durchsucht werden. Wenn man sieht, mit wem sie in welcher Sprache und in welchen Ländern kommuniziert haben, ist das ein wertvoller Hinweis auf ihre Herkunft.
Wir sollten uns von einer zu naiven Vorstellung über die Motive und den Wissensstand der Migranten verabschieden. Neueste Erkenntnisse über den Ablauf von Verfahren teilen sie in Echtzeit über soziale Netzwerke. Es wäre darum besser, die Gesuche von Migranten ohne Chance auf Asyl an den EU-Aussengrenzen oder sogar in Drittstaaten zu prüfen. Erste Testbetriebe sind ja angelaufen.
Wenn wir die irreguläre Migration stark eindämmen, eröffnet das neue Möglichkeiten für eine kontingentierte, legale Migration und für Aus- oder Weiterbildungen in der Schweiz oder der EU. Wenn wir dagegen die Bedenken in der Bevölkerung nicht ernst nehmen, sind politische Verwerfungen die Folge. Wir können sie in vielen westlichen Ländern gerade beobachten.»
Petra Gössi: «Wer Vertrauen verspielt, muss gehen»
Die FDP verschärfte zuletzt den Ton gegen Asylsuchende. Das hat auch mit der Stimmung in der Bevölkerung zu tun, sagt Ständerätin Petra Gössi. Die Beobachter-Umfrage bestätige das.
«Ich spreche oft mit Polizisten. Manche berichten von Asylsuchenden, die sie beim Klauen oder Einbrechen erwischen. Diese Personen werden angehalten und einvernommen – dann müssen sie freigelassen werden. Am nächsten Tag beginnt die Geschichte von vorne. Die Delikte haben keine Konsequenzen. Dafür seien sie nicht Polizisten geworden, sagen sie mir.
Den Frust über eine gewisse Ungleichbehandlung lese ich auch aus der Befragung des Beobachters heraus. Die Schweiz ist ein Land, das seine Bürgerinnen und Bürger in die Pflicht nimmt. Wir zahlen Steuern und arbeiten. Wenn wir gegen das Gesetz verstossen, werden wir gebüsst.
Asylsuchende werden vom Staat und oft auch von Privaten unterstützt. Und wenn sie die Regeln brechen, passiert oftmals nicht viel. Das scheint viele Menschen zu stören. Das Asylsystem sehe ich als Vertrauensvorschuss. Wer dieses Vertrauen verspielt, weil er Delikte begeht, sollte auch mit Konsequenzen rechnen müssen.
Ich bin überzeugt, dass nach der Wahl von Donald Trump in den USA die Forderung nach einer harten Linie gegenüber straffälligen Ausländern noch lauter wird. Trump sagt, er wolle Millionen von illegalen Migranten ausschaffen. Die Leute werden sich fragen: Wenn die USA das machen, warum machen wir das nicht auch?»
Thomas Niederberger: «Ein Bagatelldelikt ist nicht dasselbe wie ein schweres Verbrechen»
In der Grenzstadt Kreuzlingen TG steht ein Bundesasylzentrum. Der Stadtpräsident sagt, ein kleiner Prozentsatz krimineller Asylsuchender bringe alle in Verruf.
«Der Umgang mit straffälligen Asylsuchenden ist in Kreuzlingen ein Thema. In unserem Bundesasylzentrum warten abgewiesene Asylsuchende auf ihre Weiterreise. Manchmal begeht eine kleine Gruppe Delikte. Es ist wirklich nur ein kleiner Prozentsatz. Doch das führt zu grossem Unmut in der Bevölkerung und fällt am Ende auf alle Asylsuchenden zurück. Es gibt Menschen, die sich tadellos verhalten. Und dann gibt es solche, die gegen die Regeln verstossen. Aber ein Bagatelldelikt ist nicht dasselbe wie ein schweres Verbrechen. Es wird folglich auch nicht gleich bestraft.
Wer das Gesetz in grobem Mass verletzt, der sollte ausreisen müssen. Mein Eindruck ist, dass da in der Bevölkerung der Wunsch nach einer härteren Praxis besteht. Der Kanton Thurgau tut das relativ konsequent. Von allen Kantonen setzt er am zweithäufigsten obligatorische Landesverweise um. Ich glaube aber nicht, dass kantonale Unterschiede eine Rolle spielen. Das subjektive Sicherheitsempfinden der Leute reagiert auf schlimme Einzelfälle. Da ist es egal, wo sie stattfinden.»
Karin Kayser-Frutschi: «Die Umfrage überrascht mich in ihrer Deutlichkeit»
Karin Kayser-Frutschi (Mitte-Partei) ist Co-Präsidentin der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD). Im Kanton Nidwalden leitet sie die Justiz- und Sicherheitsdirektion.
«Die Umfrage überrascht mich in ihrer Deutlichkeit. Ich kann das Ergebnis aber nachvollziehen. Das Thema bewegt die Leute ja sehr. Und es ist ein legitimer Anspruch, dass sich Ausländer wohl verhalten und die Schweiz sonst verlassen müssen.
Eine relativ kleine Gruppe von Migrantinnen und Migranten stellt mit ihrem Verhalten die Glaubwürdigkeit unserer Asyl- und Ausländerpolitik auf die Probe. Das müssen wir ernst nehmen und auf allen Stufen Lösungen finden, vom Bund bis hinunter zu den Gemeinden. Daran arbeiten wir auch intensiv und erzielen Erfolge.
Im internationalen Vergleich ist die Schweiz Spitzenreiterin bei Rückführungen. Wir haben extrem strenge strafrechtliche -Regeln zum Landesverweis. Die Kantone setzen diese auch um, wenn die Justiz entsprechende Urteile fällt und Rückschaffungen in die Herkunftsländer möglich sind. Hier sind wir auf Abkommen mit diesen Staaten angewiesen. Sie müssen vorangetrieben werden.
Ein grosses Problem: die unerledigten Asylgesuche. Der Pendenzenberg beim Bund ist riesig, auch weil zu viele Stellen abgebaut wurden. Wenn aber immer mehr Geflüchtete ohne Entscheid Kantonen und Gemeinden zugeteilt werden, stellt das die Verantwortlichen vor fast unlösbare Probleme. Erst recht, wenn die Migranten straffällig geworden sind. Anerkannte Flüchtlinge sollten wir ja möglichst schnell integrieren, die anderen gerade nicht, weil sie die Schweiz verlassen müssen.
Es braucht klarere Signale an Straftäter und auch an Migranten, die keine Chancen auf Asyl haben. Die Schweiz muss für sie als Zielland unattraktiv bleiben. Die 2024 eingeführten Schnellverfahren für Flüchtlinge aus solchen Herkunftsländern tragen dazu bei.»
Marc Spescha: «Die Mehrheit der Ausländer in diesem Land verhält sich tadellos»
Marc Spescha ist Anwalt und Titularprofessor an der Uni Fribourg. Er befasst sich seit 35 Jahren mit den Rechten von Ausländern. Er sagt, es gebe eine Kluft zwischen der Realität und der Annahme, Ausländer würden hierzulande «verhätschelt».
«Das Resultat der Befragung spiegelt den politischen Diskurs, der sich seit Jahren verschärft. «Kriminelle Ausländer» hat sich als Wortpaar tief in unseren Köpfen festgesetzt. Als Anwalt, der sich seit 35 Jahren mit dem Gesetz und Migrationsfragen befasst, weiss ich: Die Kriminalität von Ausländern wird in der Gesamtbevölkerung stark überschätzt. Was denken Sie: Wie viele von 100 Ausländerinnen und Ausländern, die in der Schweiz aufenthaltsberechtigt sind, werden jährlich einer Straftat beschuldigt? Ich sage es Ihnen: Es sind 1,3 Prozent. Gegenüber 0,7 Prozent bei den Schweizerinnen und Schweizern.
Das heisst: Die überwältigende Mehrheit der Ausländerinnen und Ausländer in diesem Land verhält sich tadellos. Und da haben wir über die Schwere der Straftaten noch gar nicht gesprochen. Viele der Befragten nehmen an, dass die Schweiz kriminelle Ausländer mit Samthandschuhen behandle. Tatsache ist: Die Hürde für einen Landesverweis wurde mit der Ausschaffungsinitiative stark gesenkt. Heute kann zum Beispiel ein einfacher Einbruchdiebstahl, der mit einer Geldstrafe geahndet wird, bereits für den Entzug der Aufenthaltsbewilligung genügen. Selbst bei Leuten, die jahrelang hier lebten.
Die Medien spielen in dieser Debatte eine grosse Rolle. Häufig lesen wir von Fällen, bei denen es nach einem Delikt ausnahmsweise nicht zu einer Landesverweisung kam. Die hundertfachen Landesverweisungen bei relativ geringfügigen Delikten werden hingegen öffentlich kaum thematisiert. Die scharfe Rhetorik zeigt Wirkung. Jüngere zwischen 16 und 39 Jahren stimmen der Behauptung einer zu laschen Praxis deutlich weniger stark zu als Leute ab 40 oder solche im Rentenalter. Meine Vermutung lautet: Bei den Älteren hat die jahrzehntelange Beschwörung einer Bedrohung der Schweiz durch «kriminelle Ausländer» die entsprechende Wirkung getan und die Wahrnehmung stärker geprägt.»
Gerechtigkeit ist eine Grundvoraussetzung, damit Gesellschaft und Demokratie funktionieren. Aber wie gerecht ist die Schweiz? Bei welchen Themen tun sich Gräben auf? Und wer soll Ungerechtigkeiten beseitigen? Diesen Fragen geht der Beobachter mit dem Gerechtigkeits-Barometer auf den Grund – einer Umfrage, die nun jährlich gemacht wird. In dieser Podcast-Folge spricht der Beobachter über die wichtigsten Resultate. Hier geht es zum Podcast.
Gerechtigkeit ist eine Grundvoraussetzung, damit Gesellschaft und Demokratie funktionieren. Aber wie gerecht ist die Schweiz? Bei welchen Themen tun sich Gräben auf? Und wer soll Ungerechtigkeiten beseitigen? Diesen Fragen geht der Beobachter mit dem Gerechtigkeits-Barometer auf den Grund – einer Umfrage, die nun jährlich gemacht wird. In dieser Podcast-Folge spricht der Beobachter über die wichtigsten Resultate. Hier geht es zum Podcast.