Versteckt zwischen hohen Tannen, am Ende einer steilen, etwas abgelegenen Strasse oberhalb des Dorfs liegt die Jugendherberge Grindelwald. Vis-à-vis ragt die mächtige Felswand des Eigers empor. Bei Sonnenschein und Vogelgezwitscher auf der Terrasse des Gebäudes lassen sich die im Moment noch mit Schnee überzogenen Baumwipfel genaustens beobachten. Ab und an fliegen ein paar Gleitschirmflieger vorbei, doch auch sie vermögen die Ruhe nicht zu stören. Es ist der ideale Ort für eine Jugendherberge. Deshalb steht sie wahrscheinlich auch schon so lange dort. Mit dem Eröffnungsjahr 1939 gehört die Jugendherberge Grindelwald zu den ältesten der Schweiz. Das Chalet selbst war ursprünglich ein Ferienhaus eines reichen Berner Industriellen und wurde 1904 von einem englischen Architekten gebaut. Damit ist es sogar noch älter als der Verein Schweizer Jugendherbergen, der am 28. April sein 100-Jahr-Jubiläum feiert.
Dass der Betrieb in Grindelwald inmitten der schönsten Bergwelt liegt, hat zu Gründungszeiten der Jugendherbergen eine zentrale Rolle gespielt. Damals waren die Jugendlichen noch viel in der Natur unterwegs: Freies Wandern war besonders in und versprach ein unabhängiges Leben ausserhalb der Kontrolle der älteren Generation. Damit die jungen, meist nicht besonders reichen Wanderfreunde günstige Unterkünfte zur Verfügung haben, wird 1924 die Genossenschaft für Jugendherbergen Zürich gegründet. Nur wenige Jahre später wird dann der Bund Schweizerischer Jugendherbergen ins Leben gerufen, um der Bewegung einen rechtlich verbindlichen Rahmen zu geben.
Heute sind die Gäste zwar nicht mehr ausschliesslich junge Wanderer, die Natur ist aber immer noch von grosser Bedeutung für die Organisation. Seit der Jahrtausendwende setzen sich die Jugendherbergen offiziell für einen nachhaltigen Verbrauch von Ressourcen und Energie ein. Aber auch für die Besucher ist ein naturnaher und naturfreundlicher Standort nach wie vor wichtig.
«Unsere Gäste sind eher aktiv und wollen etwas erleben. Und hier in Grindelwald ist es ideal dafür», sagt Janine Bunte, CEO der Schweizer Jugendherbergen. Sie spricht aus Erfahrung: «Als ich 1996 bei den Jugendherbergen anfing, war die Jugendherberge Grindelwald die erste, in der ich übernachten durfte.» Seither hat die Chefin natürlich unzählige Nächte in Jugis verbracht. Gerade mit ihren Kindern sei das ideal gewesen, da sie oft als Drei-Generationen-Familie unterwegs gewesen seien.
Familien waren nicht immer willkommen
Dass auch Familien in Jugendherbergen unterkommen können, ist erst seit 1952 offiziell möglich. Vorher war es über 25-Jährigen nicht erlaubt, in den Jugis zu übernachten. Diese Altersregelung hatte zuvor dabei geholfen, Vorschriften von 1915 zu umgehen. Die besagten, dass der Bau oder die Erweiterung von Hotels nur mit Genehmigung des Bundesrats möglich waren.
«Man fand aber schon immer Wege, diese Altersgrenze zu umgehen», meint Janine Bunte mit einem Schmunzeln. «Man musste einfach genug Kinder im Schlepptau haben.»
So wurde auch in Grindelwald kurz nach der Aufhebung der Altersgrenze in einem leer stehenden Waschhäuschen das erste Familienzimmer errichtet. Heute übernachten Familien überwiegend im 1996 errichteten Neubau, gleich neben dem Hauptgebäude. Dort befinden sich Doppel- und Vierbettzimmer. Das Ursprungschalet mit hohen Räumen aus Holz und besagter Terrasse bietet mit den typischen Mehrbettzimmern Platz für etwas geselligere Reisende oder Leute mit kleinerem Budget. Diese Gemeinschaftszimmer entsprechen auch heute noch dem Gedanken der Jugendherbergen: «Unser Konzept ist es, dass man sich in unseren Räumlichkeiten trifft, sich austauscht, voneinander lernen kann. Das ist besonders in der heutigen Zeit wichtig. So kommen auch verschiedene Kulturen zusammen», erklärt Janine Bunte.
Für alle, die eine Unterkunft brauchen
Die Jugendherberge als Treffpunkt scheint zu funktionieren. So auch für geflohene Ukrainerinnen und Ukrainer, die nach Kriegsausbruch in der Jugendherberge Zürich unterkommen durften. Dabei kam es zu berührenden Wiedersehen, wie Bunte erzählt: «Ein elfjähriger Junge zum Beispiel, der seine Familie auf dem Weg in die Schweiz verlor, hat sie in der Jugendherberge Zürich wiedergetroffen.»
Das ist nicht das erste Mal, dass die Jugendherbergen Unterkunft für Vertriebene bieten: Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg sowie nach dem Ungarnaufstand 1956 werden Flüchtlinge in verschiedenen Jugis untergebracht.
«Das gehört bei uns zur DNA. Dass wir für Menschen da sind, die eine Unterkunft brauchen, egal aus welchen Gründen», sagt Janine Bunte.
Deshalb sind Jugendherbergen auch verhältnismässig günstig. So soll es auch Menschen, die nicht viel Geld haben, ermöglicht werden, Ferien zu machen und zu reisen. Janine Bunte bestreitet nicht, dass gerade Einzelzimmer heute preislich nicht mehr weit von Hotels entfernt sind. Dabei spricht aber dennoch ein entscheidender Punkt für ein Zimmer in der Jugi: «Wer bei uns übernachtet, tut gleichzeitig auch etwas Gutes. Mit einer Übernachtung in einem Einzelbettzimmer ermöglicht man den Menschen, die nicht so viel Geld haben, indirekt eine Übernachtung in einem Mehrbettzimmer.»
Mit über 800'000 Logiernächten Rekord geknackt
Als Non-Profit-Organisation ist die Finanzierung für die Schweizer Jugendherbergen ein umso wichtigeres Thema. Seit dem Corona-Tief machen die Besucherzahlen aber wieder Freude: Letztes Jahr haben die Schweizer Jugendherbergen mit über 800'000 Logiernächten im eigenen Betrieb einen Rekord geknackt.
Janine Bunte hofft natürlich, dass es so weitergeht. Ihr liegt aber etwas anderes genauso am Herzen: «Was ich hoffe, ist, dass der Begegnungsort Jugendherberge und die Erlebnisse trotz aller digitalen Entwicklung auch weiterhin im Zentrum stehen. So wollen wir auch künftige Projekte noch mehr in diese Richtung entwickeln.»
Jetzt steht aber zuerst einmal das Jubiläum an. Gefeiert wurde schon mit einem Töggeliturnier, einer digitalen «Youth Challenge» und einem Bergwaldprojekt. Ausserdem fand im Februar ganz im Sinn des Jugendherberge-Gedankens ein Schneesportlager für über 70 Kinder in der Jugendherberge in Interlaken statt. Wer sich genauer über die Geschichte der Schweizer Jugendherbergen informieren möchte, besucht am besten die Ausstellung im Museum Schloss Burgdorf. Dort kann man in ein Stockbett liegen und gleichzeitig der Geschichte des Jugendtourismus lauschen.