Zwei Wissenschaftlerinnen im Interview
Allein unter Männern

Zwei Wissenschaftlerinnen, die sich an der Uni durchgesetzt haben: Geologin Katharina von Salis (82) musste sich ab den 70er-Jahren an der ETH vieles erkämpfen. Physikprofessorin Anna Sótér (36) hat es heute leichter und sagt, was Gleichstellung weiterhin erschwert.
Publiziert: 31.10.2022 um 08:23 Uhr
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Aktualisiert: 01.11.2022 um 07:40 Uhr
Adrian Meyer
Sie setzte sich schon früh für Geschlechtergleichheit in der Wissenschafts-Branche ein.
Foto: Anne Gabriel-Jürgens

Frau von Salis, fast wären Sie die erste ETH-Professorin geworden. Warum klappte es nicht?
Als mein Chef am Geologischen Institut emeritiert wurde, bewarb ich mich 1985 mit einer Kollegin als Nachfolgerin. Wir wollten die Professur im Job-Sharing ausüben. Das wäre ja noch akzeptiert worden. Aber beim Vorstellungsgespräch habe ich gemerkt, dass ich als nicht erwünschte Frau behandelt werde und nicht als Wissenschaftlerin, und dass es kaum klappen würde.

Bevor Sie 1974 zur ETH kamen, waren Sie an der Universität Kopenhagen Institutsleiterin am Geologischen Institut. Sie führten Expeditionen an nach Grönland und auf einem Forschungsschiff. Wieder in der Schweiz, sollten Sie bloss Assistentin II sein.
In Kopenhagen hatte ich eine Chefin, die mir was zugetraut hat. Das hat mich selbstbewusst gemacht. Als man mich an die ETH Zürich holte, musste ich dafür kämpfen, Oberassistentin zu werden, obwohl ich schon zehn Jahre den Doktortitel hatte. Man sagte, dass ich das nicht brauche, schliesslich habe ich doch einen Mann, der für mich sorge.

Welchen Widerständen begegneten Sie zu der Zeit an der Universität?
Erst wurde mir vom Geologiestudium ganz abgeraten – das sei nichts für Frauen. Als ich später an die ETH kam, sollte ich Kaffee machen. Ein Problem waren immer wieder die WCs. Oft gab es für Frauen zu wenige oder gar keine. Die Infrastruktur an vielen Unis war bis in die 90er-Jahre für Frauen suboptimal.

Was löste das bei Ihnen aus?
Darunter habe ich nicht gelitten, und mit Männern umzugehen, war ich gewohnt. Schon als Kind habe ich lieber mit Buben gespielt als mit Mädchen. In meiner Gymiklasse war ich anfangs das einzige Mädchen neben 29 Buben. Am ersten Schultag warfen sie mir einen nassen Schwamm ins Gesicht. Ich habe ihn zurückgeworfen. Dann war Ruhe.

An der ETH galten Sie als «Emanze vom Dienst». Wie kams dazu?
Ich habe an einer Dozentensitzung vorgeschlagen, das neue Reglement an unserem Institut in weiblicher Form zu schreiben. Das war, gleich nachdem die Appenzellerinnen das Stimmrecht erhielten. Von da an galt ich als Feministin. Am Frauenstreik 1991 habe ich mit vielen anderen Frauen einige Aktionen auf die Beine gestellt. An den ETH-Präsidenten Jakob Nüesch schrieben wir zudem eine Resolution mit dem Titel «ETH-Frauen wollen Taten sehen!» mit vielen Forderungen. Als er in einem Interview sagte, er möchte mit Frauen reden, schrieb ich ihm einen Brief auf gelbem Papier, damit er ihn auch wirklich sieht. Darauf hat er mich zum Gespräch eingeladen.

Katharina von Salis

Katharina von Salis wurde 1940 in Zürich geboren und wuchs in Zollikofen BE auf. Ihre Mutter Charlotte war Modejournalistin, ihre Grossmutter Hanni Bay Malerin, Bergsteigerin und Alleinerziehende. Von Salis machte 1965 ihren Doktor in Geologie. In Kopenhagen war sie von 1968 bis 1974 Dozentin und Institutsleiterin, danach – mit einigen Unterbrüchen – bis 2001 Oberassistentin an der ETH Zürich. 1991 gründete sie die Stelle für Chancengleichheit von Mann und Frau und wurde ein Jahr später zur Titularprofessorin ernannt. Ab 1997 war sie Präsidentin der Konferenz der Frauenbeauftragten der Hochschulen. Seit 2001 ist sie im Ruhestand. Mit ihrem Mann, dem Dänen Jørgen Perch-Nielsen, hat sie drei Töchter und lebt im Engadin.

Katharina von Salis wurde 1940 in Zürich geboren und wuchs in Zollikofen BE auf. Ihre Mutter Charlotte war Modejournalistin, ihre Grossmutter Hanni Bay Malerin, Bergsteigerin und Alleinerziehende. Von Salis machte 1965 ihren Doktor in Geologie. In Kopenhagen war sie von 1968 bis 1974 Dozentin und Institutsleiterin, danach – mit einigen Unterbrüchen – bis 2001 Oberassistentin an der ETH Zürich. 1991 gründete sie die Stelle für Chancengleichheit von Mann und Frau und wurde ein Jahr später zur Titularprofessorin ernannt. Ab 1997 war sie Präsidentin der Konferenz der Frauenbeauftragten der Hochschulen. Seit 2001 ist sie im Ruhestand. Mit ihrem Mann, dem Dänen Jørgen Perch-Nielsen, hat sie drei Töchter und lebt im Engadin.

Eine Forderung war die Stelle für Chancengleichheit von Mann und Frau an der ETH, die Sie mit aufbauten.
Die ETH war damals wegen Frauenmangel öffentlich unter Druck. Ich war kein Huschi und konnte gut mit mächtigen Männern umgehen. ETH-Präsident Nüesch fragte mich direkt, was ich denn brauche. Dann ging es schnell zur Sache. Als Erstes haben wir ein ETH-Bulletin produziert, in dem nur Frauen schrieben. Das erhielten auch alle Erstsemestler. Das war unsere erste Fanfare! Danach ging es um praktische Dinge, um Kinderbetreuung, Krippen, Damentoiletten.

In ihrer Jugend war Katharina von Salis Spitzensportlerin – u. a. Schweizer Meisterin im Langlauf und Vize-Weltmeisterin im Orientierungslauf.
Foto: Anne Gabriel-Jürgens

Was hat Sie zur Feministin gemacht?
Ich habe mich dagegen gewehrt, ungerecht behandelt zu werden. Und das wurde ich immer wieder. Ich war einige Zeit im Waisenhaus, am Mittwochnachmittag durften die Buben Sport betreiben, wir Mädchen mussten stricken. Als ich im Gymi das einzige Mädchen war, durfte ich nicht mitturnen. Dabei war ich sehr sportlich. Der Akademische Alpenclub Bern nahm mich nicht auf, obwohl der Club von meinem Grossvater gegründet und präsidiert worden war. Während meiner Zeit in Dänemark habe ich gesehen, wie viel für Frauen ohne Kampf möglich ist.

Vor Ihrer wissenschaftlichen Karriere waren Sie eine der ersten Schweizer Spitzensportlerinnen. 1966 wurden Sie Vize-Weltmeisterin im Orientierungslauf. Auch hier waren Sie eine Pionierin. Wie kamen Sie zu dieser Rolle?
Meine Grossmutter, meine Tanten, meine Mutter, sie alle haben immer gearbeitet. Ich bin nicht aus idealistischen Gründen zur Pionierin geworden, sondern aus praktischen. Eine Vorkämpferin wollte ich nicht sein, ich bin es einfach geworden.

Wofür haben Sie gekämpft?
Für mich. Ich wollte einfach all die Dinge machen, die mir gefallen. Aber offenbar habe ich damit vielen anderen Frauen neue Möglichkeiten eröffnet.

Welchen Tipp geben Sie jungen Frauen, die als Naturwissenschaftlerinnen ihren Weg gehen möchten?
Man braucht einen grossen Willen. Und den richtigen Mann. Vor allem dann, wenn man Karriere machen und Kinder haben will. Die Wahrscheinlichkeit, dass man dafür einen Schweizer Mann findet, ist leider noch immer recht klein! Viele jüngere Schweizer sind mit klassischen Rollenbildern sozialisiert worden. Es beelendet mich, wenn ich heute noch sehe, wie für Frauen in der Wissenschaft Familie und Karriere oft nicht vereinbar sind. In der Schweiz ist es wirklich schwierig, dieses alte Rollenbild umzudrehen.

Worauf sind Sie stolz?
Heute haben Unis wie die ETH Krippenplätze, flexible Arbeitszeitmodelle, es gibt mehr Professorinnen. Es hat sich etwas bewegt, und ich war dabei. Wenn ich dann noch höre, dass ich für etliche Studentinnen und Doktorandinnen ein Vorbild war, ist das schon schön.

EqualVoice

Als internationaler Medienkonzern setzt sich die Ringier-Gruppe mit ihrer publizistischen und technologischen Kraft seit 2019 für die Gleichwertigkeit von Frauen und Männern ein. Ringier will mit der EqualVoice-Initiative die Frauen in der Berichterstattung sichtbarer machen, denn heute handeln Medienartikel in der Schweiz zu 72 Prozent von Männern. Zudem soll die Initiative mehr weibliche Vorbilder schaffen. Um das zu erreichen, misst Ringier den Frauen- und Männeranteil in den Onlineberichten mit einem von der ETH verifizierten Algorithmus und veranstaltet Events.

Als internationaler Medienkonzern setzt sich die Ringier-Gruppe mit ihrer publizistischen und technologischen Kraft seit 2019 für die Gleichwertigkeit von Frauen und Männern ein. Ringier will mit der EqualVoice-Initiative die Frauen in der Berichterstattung sichtbarer machen, denn heute handeln Medienartikel in der Schweiz zu 72 Prozent von Männern. Zudem soll die Initiative mehr weibliche Vorbilder schaffen. Um das zu erreichen, misst Ringier den Frauen- und Männeranteil in den Onlineberichten mit einem von der ETH verifizierten Algorithmus und veranstaltet Events.

Anna Sótér

Mit nur 36 Jahren ist Anna Sótér bereits Professorin an der ETH Zürich.
Foto: Anne Gabriel-Jürgens

Frau Sótér, Sie sind 36 alt und ETH-Physikprofessorin. Warum ist das im Jahr 2022 noch immer eine Sensation?
Das frage ich mich auch! Ich bin geschlechtsblind aufgewachsen. In meiner Familie haben die Frauen immer gearbeitet. Meine Grossmutter war Chemikerin in der Metallurgie. Mein Vater holte mich von der Kita ab, wie auch er von seinem Vater dort abgeholt wurde. Traditionelle Rollenbilder waren bei uns kein grosses Thema.

Frauen sind im MINT-Bereich weiterhin unterrepräsentiert, insbesondere ganz oben auf der Karriereleiter. Fühlen Sie sich als Minderheit?
Ich bin eine der wenigen Glücklichen, die es zur Professorin geschafft haben. Glück hatte ich aber nicht, weil ich eine Frau bin, sondern weil es generell so wenige Professur-Stellen gibt. Mit diesem Problem kämpfen auch die Männer. Tatsächlich habe ich mich in meiner ganzen wissenschaftlichen Karriere nie benachteiligt gefühlt als Frau. Ich bekam immer viel Unterstützung, um meinen Weg zu gehen. Schon in der Schule hatte ich das Glück, dass mein Interesse an Physik und Mathe von den Lehrern gefördert wurde. Dafür bin ich sehr dankbar. Gender-Themen spielten für mich keine Rolle. Daher dauerte es eine Weile, bis ich realisiert habe, dass ich immer weniger Frauen um mich herum habe.

Woran liegt das?
Vielleicht an gesellschaftlichen Normen und Erwartungen. Frauen tragen das als unsichtbares Gepäck mit sich, dieses Vorurteil, dass Naturwissenschaften nichts für sie seien. Sie hinterfragen sich stärker als Männer, trauen sich weniger zu. Das beobachte ich in meinen Vorlesungen. Frauen, die eigentlich mehr wissen, denken, sie seien schlechter. Bei den Männern ist es oft umgekehrt. Wieso das so ist, weiss ich nicht. Vielleicht weil Jungs früh lernen, wie Wettbewerb funktioniert. In der Wissenschaft ist der Wettbewerb ja besonders hart. Menschen, die sich diese Atmosphäre nicht gewohnt sind, fallen hier hinten runter. Und ich habe das Gefühl, das sind eher die Frauen als die Männer.

Heute sind die Vorurteile gegen Frauen subtiler als früher, meint die Wissenschaftlerin.
Foto: Anne Gabriel-Jürgens

Noch in den 80er-Jahren mussten sich Frauen an der ETH für eigene Toiletten einsetzen. Gegen welche Widerstände müssen Sie heute kämpfen?
Bei meiner ersten Stelle am CERN war ich tatsächlich alleine auf dem Klo, weil es so viele Damentoiletten gab, aber kaum Physikerinnen! Das verdanke ich wohl den Forscherinnen der vorangegangenen Generation. Auch wenn ich mich persönlich nie diskriminiert gefühlt habe, gibt es weiterhin Auseinandersetzungen zwischen den Geschlechtern. Einfach viel subtiler. So hat die Frauenförderung im MINT-Bereich dazu geführt, dass sich gewisse Männer im Nachteil fühlen gegenüber Frauen. Obwohl die meisten Professuren weiterhin in Männerhand sind! Umgekehrt fragt sich nun manche Wissenschaftlerin, ob sie ihre Stelle oder Position wirklich wegen ihrer Expertise erhalten hat – oder nur, weil sie eine Frau ist. Das müssen wir Wissenschaftlerinnen aber aushalten in dieser Übergangsphase zu echter Gleichstellung.

Anna Sótér

Anna Sótér, 36, ist seit 2020 Professorin am Institut für Teilchen- und Astrophysik an der ETH Zürich. Aufgewachsen in Székesfehérvár im Westen von Ungarn, doktorierte sie 2016 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Ab 2017 forschte sie am Paul-Scherrer-Institut in Villigen, 2020 wurde sie als Assistenzprofessorin an die ETH Zürich berufen. Sie untersucht im Gebiet der exotischen Atome fundamentale physikalische Fragestellungen von der Teilchenphysik bis zur Kosmologie.

Anna Sótér, 36, ist seit 2020 Professorin am Institut für Teilchen- und Astrophysik an der ETH Zürich. Aufgewachsen in Székesfehérvár im Westen von Ungarn, doktorierte sie 2016 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Ab 2017 forschte sie am Paul-Scherrer-Institut in Villigen, 2020 wurde sie als Assistenzprofessorin an die ETH Zürich berufen. Sie untersucht im Gebiet der exotischen Atome fundamentale physikalische Fragestellungen von der Teilchenphysik bis zur Kosmologie.

Wie sähe echte Gleichstellung aus?
Es wäre kein Thema mehr, dass es Physikprofessorinnen gibt. Und wir müssten dieses Interview nicht führen. Ich wäre einfach eine Professorin, die Physik erforscht. Dass dieses Bild endlich normal wird, dafür kämpfe ich. Ich tu einfach so, als gäbe es bereits diese strahlende Zukunft der Gleichstellung! Dass diese Zeit kommt, daran glaube ich fest.

Wie zufrieden sind Sie mit Rahmenbedingungen für Frauen an der ETH?
Als ich vor zwei Jahren hierherkam, habe ich viel Unterstützung bekommen, wurde toll empfangen. An Genderprobleme habe ich kein einziges Mal gedacht. Ich habe keine Kinder, daher ist das Betreuungsproblem noch kein Thema für mich. Aber ich weiss von Kollegen, dass das in der Schweiz nicht so einfach ist.

Langweilt Sie die Gleichstellungsdebatte?
Ich will eigentlich vor allem Physik machen. Also ja, im Vergleich zu Physik langweilt es mich! Aber ich weiss, dass es wichtig ist, Vorbilder zu schaffen, um mehr Frauen für die Naturwissenschaft zu begeistern, ihnen Mut zu machen. Deswegen äussere ich mich. Um zu zeigen, wie weit man als Frau heute kommen kann.

Sind Sie Feministin?
Wenn man Feminismus im ursprünglichen Sinn definiert, dass man darunter die Gleichstellung von Frauen und Männern versteht, bin ich eine Feministin. Mir gefällt der Begriff Equalismus besser.

Welchen Tipp geben Sie jungen Frauen, die als Naturwissenschaftlerinnen ihren Weg gehen möchten?
Folge deiner Leidenschaft und deiner Neugierde. Heute ist es als Frau möglich, eine exzellente Wissenschaftlerin zu werden, ohne gegenüber Männern im Nachteil zu sein. Wir haben die gleichen Voraussetzungen, die gleichen Fähigkeiten. Jetzt braucht es noch den nötigen Mut.

Worauf sind Sie stolz?
Stolz ist wohl das falsche Wort, ich bin erfüllt. Von meiner Arbeit und den Menschen in meiner Forschungsgruppe. Die Forschung, die wir derzeit betreiben können, ist einfach grossartig. Ich habe gerade eine tolle Zeit.

Dieser Artikel stammt aus dem Print-Magazin zur Ringier-Initiative EqualVoice.

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