Männer sind dominant, durchsetzungsfähig, erfolgreich, Frauen fürsorglich, sensibel, fleissig. Warum halten sich Vorurteile und Rollenmuster so hartnäckig? «Weil Menschen sich gerne unbewusst stereotype Eigenschaften zuordnen», weiss Gender-Spezialistin Gudrun Sander. Die Österreicherin ist seit 2014 Titularprofessorin für Betriebswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen. Sie beschäftigt sich mit der Frage, wie geschlechtsspezifische Denkmuster entstehen. «Menschen sehen die Welt durch die Linse ihrer eigenen Identität. Diese Linse ist oft geprägt von Rollenerwartungen und kognitiven Stereotypen, die sich auf unser Urteilsvermögen auswirken.» Die Wissenschaft bezeichnet diese ‹unbewussten Vorurteile› als ‹Unconscious Biases›: «Sie wirken wie starke Brillengläser und trüben unsere Wahrnehmung statt sie zu schärfen.
Die Folge: Selbst offene Personen mit guten Absichten diskriminieren andere unabsichtlich.» Die Ursache hat biologische Gründe. Ständig muss unser Gehirn eine Flut von Informationen bearbeiten, um Ressourcen zu sparen. Dazu nutzt es bekannte Muster, filtert Merkmale, vergleicht diese mit Gespeichertem. Objektivität und neue, neutrale Impulse haben es da schwer. Die gute Nachricht: Unbewusste Vorurteile können erkannt und abgebaut werden. Acht Tipps, wie man sich für das Thema sensibilisieren und Gender-Klischees entlarven kann.
1. «What you see, is what you believe»
Das, was wir um uns herum im Alltag erkennen, empfinden wir als «normal» und hinterfragen es nicht. Treten etwa in bestimmten Berufen nur Frauen in Erscheinung, sind sie «eher nichts für Männer» – und umgekehrt. Diese Assoziationen halten sich selbst dann, wenn sich die Realität bereits geändert hat. So schliessen mittlerweile mehr Frauen als Männer ein Medizinstudium ab, trotzdem ist die Bezeichnung «Herr Doktor» tiefer in unserer Vorstellung verankert. Passt der Vater auf die Kinder auf (und arbeitet Teilzeit), die Mutter hingegen Vollzeit, empfindet die Gesellschaft das noch immer als «abnormal». «Die Forschung zeigt, dass berufstätige Frauen in der Schweiz noch immer als schlechtere Mütter wahrgenommen werden», so Gender-Fachfrau Sander. «Wir kennen den Begriff der Rabenmutter, aber nicht den des Rabenvaters. Unsere Strukturen basieren auf total ‹veralteten› Rollenvorstellungen. Und führen bei jungen Familien immer wieder zu ‹Re-Traditionalisierungseffekten›. Wenn wir mehr Chancengerechtigkeit wollen, muss das System umgekrempelt werden.
2. Die 3-Phasen-Regel
Wir alle haben Vorurteile – sie sind keine Schande. Indem wir eine Situation verstehen, in denen Entscheidungs- und Beurteilungsfehler wahrscheinlich sind, können die negativen Mechanismen korrigiert werden. Hilfreich ist laut Sander die Drei-Phasen-Regel: 1. Beobachtung: Was höre oder sehe ich? (Z. B. eine Frau mit einem Kopfschleier betritt das Büro). 2. Interpretation: Was denke ich? (Z. B. die Frau ist eine Muslima). 3. Bewertung: Was empfinde ich, welche Emotion löst die Situation in mir aus, wie entscheide ich? (Z. B. die Frau passt nicht in mein Team/die Frau tut mir leid/die Frau ist ihrer Aufgabe nicht gewachsen). 4. Reflexion: Woher könnte ein mögliches Vorurteil stammen? Warum reagiere ich so? Welche kulturellen Werte und Normen sind mit meiner Interpretation verbunden?
3. Imitation von Geschlechter-Stereotypen
Auch Frauen machen es sich gegenseitig nicht immer leicht und gehen mit ihren Geschlechtsgenossinnen hart ins Gericht. Wie schaffen sie es, sich gegenseitig weniger zu bewerten und mehr zu unterstützen? «Sicher nicht, indem sie in Führungspositionen mit männlichen Handlungs- und Verhaltensweisen punkten. Ihre Macht ausspielen. Mit männlicher Rhetorik ihr Recht einfordern. So stimmen sie bloss zu den gängigen Geschlechter-Stereotypen», ist die HSG-Professorin überzeugt. «Frauen und Männer müssen sich darüber klar werden, was eine gute Führungskraft ausmacht – völlig unabhängig vom Geschlecht.»
4. Rosa-hellblaue Welt
Jungs lieben Autos, sind draufgängerisch, suchen das Abenteuer. Mädchen spielen mit Puppen, sind kommunikativ, interessieren sich für Mode. «Erstaunlich, wie sehr Eltern aufgrund ihrer Erwartungshaltung unbewusst noch immer ihre Kinder prägen. Schon mit Babys wird je nach Geschlecht in einer anderen Tonlage gesprochen. Man lobt Mädchen für ihre Anpassungsfähigkeit und Buben für ihren Erfolgswillen. Die rosa-hellblaue Welt ist keine Phase, sondern kann zur lebenslangen Bürde werden. Die stereotypen Wegweiser signalisieren: Hier geht es zum typischen Mädchen, dort zum perfekten Jungen.» Vielleicht möchte die Tochter aber die Welt als unerschrockene Forscherin entdecken? Dafür ist der Sohn möglicherweise kein Abenteurer, sondern ein verträumter Poet. Gudrun Sander: «In Zeiten der Überalterung und des Fachkräftemangels tun wir gut daran, der jungen Generation möglichst wenig geschlechtsspezifische Einschränkungen aufzuerlegen, sondern sie zu ermuntern, ihren Talenten und Stärken zu folgen.»
Gudrun Sander (57) setzt sich seit mehr als 25 Jahren für Chancengleichheit, Frauenförderung und Inklusion ein. Sie ist Titularprofessorin, Direktorin des Kompetenzzentrums für Diversity und Inklusion sowie Co-Direktorin der Forschungsstelle für Internationales Management an der Universität St. Gallen. Mit ihrem Team von 30 Mitarbeitenden unterstützt sie Organisationen auf dem Weg zu mehr Chancengleichheit.
Gudrun Sander (57) setzt sich seit mehr als 25 Jahren für Chancengleichheit, Frauenförderung und Inklusion ein. Sie ist Titularprofessorin, Direktorin des Kompetenzzentrums für Diversity und Inklusion sowie Co-Direktorin der Forschungsstelle für Internationales Management an der Universität St. Gallen. Mit ihrem Team von 30 Mitarbeitenden unterstützt sie Organisationen auf dem Weg zu mehr Chancengleichheit.
5. Rollenmodelle
Nicht selten kommt eine Frau nicht für eine Führungsposition infrage, ohne dass dies den Vorgesetzten bewusst ist. Trotz bester Qualifikation ist sie ihnen «weniger sympathisch als der Kollege». Entsprechen ihr Ehrgeiz und ihre Ambitionen nicht dem typischen Rollenbild einer Frau. «Je mehr Frauen Führungspositionen bekleiden, je mehr Männer die Kinderbetreuung übernehmen, umso ‹normaler› empfinden wir das. Man erzielt ein anderes Verhalten nur, wenn man die unbewussten Wahrnehmungsmuster erkennt und alte Denkmuster via Selbstreflexion hinterfragt.»
6. Perspektivenwechsel
«Die Perspektive zu wechseln, ist einfach anzuwenden und zeigt uns unsere blinden Flecken meist schnell auf», weiss Sander. «Wenn mich die Aussage einer älteren Frau irritiert, kann ich mich fragen, ob mich die gleiche Aussage bei einem jungen Mann ebenso irritiert hätte.» Sie rät, keine Annahmen zu treffen, wie zum Beispiel diese: Eine Freundin ist nach aussen nicht mehr an einer beruflichen Entwicklung interessiert, sie hat schliesslich gerade ihr zweites Kind bekommen. Besser ist, direkt bei ihr nachzufragen. «Wir dürfen es unserem Gehirn nicht erlauben, diese kognitiven Abkürzungen zu nehmen.»
7. Negativitätsdominanz
Die Negativitätsdominanz führt dazu, dass uns eine einzige verpatzte Präsentation besser im Gedächtnis haften bleibt als die vielen gelungenen. Uns ein unfreundliches Gesicht in der Menge stärker auffällt als die vielen freundlichen. Ein einziger Kritikpunkt eines Feedbacks uns noch wochenlang beschäftigt, während die Worte des Lobes längst vergessen sind. «Ein übermässiger Fokus auf das Negative macht das Treffen guter Entscheidungen schwer. Obwohl Negativitätsbias alle Menschen betreffen, leiden mehr Frauen als Männer darunter.» Gut zu wissen, dass mit zunehmendem Alter der Einfluss der negativen Vorurteile sinkt – ältere Menschen sind sich der verbleibenden Zeit bewusster. Es bedarf einer klaren Korrektur dieser Verzerrungen durch ein achtsames Lenken der Aufmerksamkeit auf positive Tatsachen: «Im Fall eines Fehlschlags sollten wir uns nicht zu sehr in Selbstkritik verlieren. Also aufstehen, Krone richten und weitergehen!»
8. Überstrahl-Effekte und Mini-Me-Bias
Stress, Zeitdruck, Ärger und Multitasking sind Faktoren, die die bewusste Kontrolle erschweren. In Situationen, in denen es darum geht, die Fähigkeiten von Personen anzuerkennen, sind klare Kriterien nötig, sonst passieren sogenannte «Überstrahl-Effekte», Halo-Bias genannt. «Nimmt man eine Person beispielsweise als schön wahr, scheint sie oft auch kompetenter. Einer grossen Person schreiben wir unbewusst mehr Führungskompetenzen zu. Eine tiefe Stimme erweckt den Eindruck einer präsenten Führungsperson.» Ein ähnliches Muster ist beim Lebenslauf erkennbar: «Hat der/die Kandidat:in bei einer bekannten, positiv assoziierten Marke gearbeitet (z. B. Google), wird ihre Kompetenz positiver bewertet. Generell beurteilen wir Personen, die uns ähnlich sind, positiver. Das kann die Nationalität betreffen oder das gleiche Hobby.» Der Effekt ist in der Forschung als «Mini-Me-Bias» bekannt. Und noch ein Effekt schlägt uns ein Schnippchen, so Sanders: Eine als negativ markierte Eigenschaft einer Person überstrahlt alle anderen. Ein abwertender stereotyper Gedanke, wie «ältere Menschen haben keine Digitalkompetenz», führt zu einer Wahrnehmungsverzerrung. Dasselbe gilt für die geringe gesellschaftliche Akzeptanz von Kinderlosigkeit.