Hortleiter erklärt die Unterschiede
Buben sind anspruchsvoller

Seit 22 Jahren arbeitet der Sozialpädagoge Guido Chrysostom (57) in der Stadt Zürich in Horten. Wie unterschiedlich erlebt er Mädchen und Knaben – vom Kindergartenalter bis zur 6.Klasse – über Mittag und nach der Schule?
Publiziert: 31.10.2022 um 07:40 Uhr
|
Aktualisiert: 31.10.2022 um 21:07 Uhr
Peter Hossli
Guido Chrysostom arbeitet seit über 20 Jahren mit Kindern und Jugendlichen zusammen.
Foto: Thomas Meier

Guido Chrysostom, 57, Sohn eines Sri Lankers und einer Schweizerin, wuchs in London der Siebzigerjahre auf. Er machte eine Lehre als Gärtner und bildete sich zum Sozial- und Theaterpädagogen sowie Englischlehrer weiter. Der passionierte Musiker und Tänzer arbeitete im Behinderten- und Kinderheim, war in der Jugendarbeit tätig und ist seit 22 Jahren Hortleiter in der Stadt Zürich.

Herr Chrysostom, seien Sie ehrlich: Wer ärgert Sie im Hort mehr, die Buben oder die Mädchen?
Natürlich die Buben.

Worin zeigt sich das?
Die Buben sind extrovertierter. Sie fallen mehr auf. Sie sind lauter, präsenter und deswegen anspruchsvoller.

Ab welchem Alter beobachten Sie das?
Im Kindergartenalter verhalten sich Buben und Mädchen ähnlich. Ab der 2. oder 3. Klasse beginnt die Vorpubertät, die Jungs fangen an, sich zu positionieren und anzugeben.

Dann wird es anstrengend?
Nicht unbedingt. Entscheidend ist, wie eine Gruppe zusammengesetzt ist. Gibt es ein Alphatier, das bestimmt, wo es langgeht? Das beeinflusst die Dynamik negativ, es kann kritisch werden. Es gibt aber auch Zehnergruppen, die sich leicht führen lassen. Oder aber drei Jungs, die mich ermüden. Dann bin ich abends fix und foxi.

Was macht Sie fix und foxi?
Die immer gleichen Konflikte, die immer gleichen Provokationen: «Wer bist du eigentlich?» – «Warum bist du so fett?» – «Wie schlecht spielst du denn Fussball?» Der ständige Wettbewerb, wer der stärkste Junge ist, kann ermüdend sein.

Unter den Mädchen gibt es so etwas nicht?
Doch, aber Mädchen machen es anders. Ihr Wettbewerb ist subtiler, hinterhältiger und durchdachter. Sie kneifen einander in den Hintern und wollen nicht, dass jemand weiss, wer es war. Mädchen schliessen einander aus. Sie sagen: «Mit dir laufe ich nicht mehr, mit dir lasse ich mich nicht blicken.» Das kann genauso schmerzhaft sein wie wenn ein Knabe einem anderen sagt: «Du bist ein Arschloch.»

Knaben sind aggressiver, Mädchen agieren im Hinterhalt?
Grundsätzlich ja. Aber es gibt sensible Jungs, die gerne lesen und keine Machos sind. Diese Knaben kommen tendenziell unter die Räder, da muss ich dafür schauen, dass sie einen Platz haben. Auf die Introvertierten muss ich mehr achten. Bei den Extrovertierten weiss ich sofort, wo sie stehen.

Gibt es etwas, das nur Mädchen tun, das Sie ermüdet?
Ständiges Giggeln und Kichern. Es ist wahnsinnig ansteckend. Wenn zehn Mädchen nur noch kreischen, ist das kaum auszuhalten. Dann schwappt eine Welle über. Statt zu reden, giggeln sie nur noch.

Was tun Sie dann?
Ich sage ihnen: «Hey, jetzt ist aber okay, giggelt noch eine Runde, dann reden wir.»

Benutzen Sie eine andere Sprache, um mit Knaben oder Mädchen zu reden?
Kommen die Jungs aggressiv in der Gruppe daher, bellen sie wie wild, da kann ich nicht meine zarte Stimme hervornehmen. Dann muss ich auf den Tisch klopfen. Bei den Mädchen ist das selten nötig. Mit ihnen kann ich ruhiger sprechen.

Sie machen das seit 22 Jahren. Wie haben sich Jungen und Mädchen in dieser Zeit verändert?
Ehrlich gesagt, nicht gross. Mädels sind immer noch Mädels. Und Buben sind Buben. Verändert hat sich der Druck durch die digitalen Medien. Ich habe den Eindruck, dass die Kinder deswegen grundsätzlich unruhiger geworden sind. Hinzu kommt der schulische Druck. Es gibt diese Schere, wer ins Gymi geht und wer nicht. Aber Mädchen spielen immer noch anders als Knaben.

Wie vertreiben Mädchen und Knaben im Hort die Zeit?
Die Jungs spielen fast nur Fussball. Die Mädchen sind kreativer, sie holen die Wägelchen, springen von Tisch zu Tisch, gehen auf das Schwingseil und basteln. Unisex ist das Zeichnen, was beide gerne machen. Wir haben ein Puppenhaus, damit spielen nur die Mädchen. Beim Fussball und Gamen finden die Mädchen den Zugang nicht wirklich.

Dann verhalten sich die Jungen generell anders als die Mädchen?
Es ist eine Frage des Alters und der Entwicklung. Im Kindergarten und in der 1. Klasse kommt es noch überhaupt nicht auf das Geschlecht an. Ab der 2. Klasse fangen die Mädchen und Knaben an, sich zu sortieren. Ab dann bewegen sie sich getrennt. Bis sie in der 5. oder 6. Klasse anfangen, sich füreinander zu interessieren.

Versuchen Sie, die Mädchen und Knaben zusammenzuführen?
Wir verändern oft die Tischordnung. Wenn wir die Geschlechter mischen – Mädchen, Knabe, Mädchen, Knabe –, kommt sofort: «Das will ich nicht!» – und zwar von beiden Geschlechtern. Wir experimentieren oft damit, und manchmal werden wir positiv überrascht.

Der Fussball dominiert Pausenplatz und Hort. Wie viele Mädchen spielen mit?
Fussball sorgt oft für Unruhe, deshalb begleiten wir die Spiele und machen es den Mädchen schmackhaft, doch mitzuspielen. Einige wenige steigen darauf ein, sind dann leider oft überfordert. Denn die Knaben wollen unbedingt gewinnen und nehmen keine Rücksicht.

Was machen die Mädchen, wenn sie nicht Fussball spielen können?
Für sie ist es nie ein Problem, sich zu beschäftigen. Nimmt man den Jungs den Fussball weg, motzen sie.

Reden Erwachsene über Jugendliche, geht es oft um das Negative. Was stellt Sie auf?
Die Offenheit der Kinder. Mir als Erwachsenem gefällt es, Menschen zu erleben, die sind, wie sie sind. Je jünger sie sind, desto offener sind Menschen. Sie haben noch nicht das Gefühl, dieses oder jenes nicht tun zu dürfen. Je älter sie werden, desto mehr geraten sie ins System, werden geformt und eingezwängt.

Sind die Buben da anders als die Mädchen?
Das Geschlecht spielt weniger eine Rolle als die Herkunft oder der kulturelle Hintergrund. Es gibt Kinder, denen vor dem Zubettgehen eine Geschichte vorgelesen wird. Sie kommen in einer anderen Verfassung zu mir als jene, die nur gamen oder fernsehen.

Auch nach 22 Jahren im Hort macht es Guido Spass, denn: Er hat jeden Tag etwas zum Lachen.
Foto: Thomas Meier

Als was verstehen Sie sich als Hortleiter?
Meine wichtigste Aufgabe ist, sie über Mittag und nach der Schule mit Energie zu versorgen. Ich will, dass sie gerne zu mir kommen. Der Hort soll ein Ventil für sie sein. Sie dürfen bei mir schon mal wütend sein, ausrufen und motzen. Wenn sie mir etwas erzählen, wissen sie, dass es bei mir bleibt. Und ich will ihnen Sozialkompetenz vermitteln. Jedes Kind soll sich wohlfühlen. Mir ist es wichtig, dass sie anständig miteinander umgehen.

Was heisst das?
Bei mir wird niemand gemobbt. Unser Team thematisiert das oft. In diesem Jahr haben wir beispielsweise die Themen Respekt, Anstand und Toleranz ins Zentrum gerückt.

Mobben Knaben denn mehr als Mädchen?
Beide mobben, die Mädchen wie die Buben. Sie mobben anders. Mädchen mobben subtiler. Die Buben sagen: «Du bist ein Arschloch.» Ein Mädchen sagt einer Freundin: «Mit der spielen wir jetzt nicht mehr.» Natürlich erfährt das andere Mädchen das und ist traurig. Oder Mädchen wollen nicht mit anderen in Zweierreihen gehen. Das hat sich nicht verändert in den letzten 20 Jahren.

Greifen Knaben rascher zu Gewalt als Mädchen?
Knaben neigen eher dazu, Konflikte mit Kraft lösen zu wollen. Sie schubsen und schlagen schneller als die Mädchen. Das hängt auch vom Alphatier in der Gruppe ab.

Stärke ist unter Jungs wichtig?
Oh ja, seit einiger Zeit dreht sich vieles um das Sixpack.

EqualVoice

Als internationaler Medienkonzern setzt sich die Ringier-Gruppe mit ihrer publizistischen und technologischen Kraft seit 2019 für die Gleichwertigkeit von Frauen und Männern ein. Ringier will mit der EqualVoice-Initiative die Frauen in der Berichterstattung sichtbarer machen, denn heute handeln Medienartikel in der Schweiz zu 72 Prozent von Männern. Zudem soll die Initiative mehr weibliche Vorbilder schaffen. Um das zu erreichen, misst Ringier den Frauen- und Männeranteil in den Onlineberichten mit einem von der ETH verifizierten Algorithmus und veranstaltet Events.

Als internationaler Medienkonzern setzt sich die Ringier-Gruppe mit ihrer publizistischen und technologischen Kraft seit 2019 für die Gleichwertigkeit von Frauen und Männern ein. Ringier will mit der EqualVoice-Initiative die Frauen in der Berichterstattung sichtbarer machen, denn heute handeln Medienartikel in der Schweiz zu 72 Prozent von Männern. Zudem soll die Initiative mehr weibliche Vorbilder schaffen. Um das zu erreichen, misst Ringier den Frauen- und Männeranteil in den Onlineberichten mit einem von der ETH verifizierten Algorithmus und veranstaltet Events.

Um den muskulösen Körper?
Das ist ein Riesenthema. Es gibt 2.-Klässsler, die ihre Oberarmmuskeln anspannen und anschauen. Sie posieren im Sommer oben ohne und fragen: «Hey Guido, wie bekomme ich ein Sixpack?» Oder sie sagen zu mir: «Ich will nicht dick werden.»

Woher kommt das?
Von den sozialen Medien. Mädchen wollen vor allem schön aussehen. Sie merken nicht, dass die Frauen auf Instagram im realen Leben nicht ausschauen wie auf den Fotos. Mädchen fragen sich untereinander, ob sie hübsch genug seien.

Das war schon so, als Sie und ich zur Schule gingen.
Ja. Buben wollen noch immer stark sein, sie wollen sich mit den anderen messen. Und die Mädchen wollen optisch gefallen. Das fängt in der 3. Klasse an und wird danach schlimmer.

Die traditionellen Geschlechterbilderverschwinden nicht?
Ehrlich gesagt hat sich wenig verändert. Klar, wir haben feminine Jungs und raue Mädchen, aber das hatten wir auch schon immer.

Ist Unsicherheit mit der Geschlechtsidentität ein Thema?
Bei mir in der Unterstufe stelle ich das nicht fest. Die Stadt Zürich will jetzt ein drittes WC einführen für alle, die nicht wissen, was sie sind. Bei mir ist das noch kein Thema.

Als Sie und ich zur Schule gingen, hiess es, ein Knabe weint nicht. Hat sich das verändert?
Als Mann war mir immer klar, dass Männer Gefühle haben. Gesellschaftlich hat sich da einiges verändert. Der Mann muss nicht mehr einfach stark sein und darf Emotionen zeigen. Sportidole wie Roger Federer oder Cristiano Ronaldo weinen auf dem Sportplatz, das hat einen Einfluss.

Ist Ihre Arbeit dadurch einfacher geworden?
Nicht einfacher, aber schöner. Es kommt schon mal vor, dass ein 5.-Klässler weint, weil er durch einen Losentscheid als Letzter drankommt beim Adventskalender.

Lassen Schule und Hort zu, dass die Jungen ihre Verletzlichkeit zeigen können?
Die Zahl der Männer in der Betreuung hat zugenommen, und das hilft, Knaben mehr soziale Kompetenz zu vermitteln. Weint ein Knabe, kann ich ihm sagen: Hey, das ist okay, ich weine manchmal auch. Weint ein Kind, muss ich herausfinden, warum es weint. Weinen ist ein Instrument, um etwas zum Ausdruck zu bringen, das ein Kind in diesem Moment nicht sagen kann.

Wir reden oft über das Selbstwertgefühl heranwachsender Mädchen. Wie geschieht das bei den Buben?
Jungs spüren mehr Druck. Gleichzeitig sagen sie mir, der Druck sei ihnen egal. Was natürlich nicht stimmt. Sie verdrängen mehr. Bei den Lehrpersonen gibt es in den Unterstufen mehr Frauen als Männer. Für Mädchen und für Knaben ist es besser, wenn sie sowohl Männer wie Frauen haben als Lehrer oder Hortleiterinnen. Ein Knabe nimmt mich wegen meinen Erlebnissen anders wahr als eine Lehrerin. Und Mädchen hilft es, ihr Männerbild zu formen, wenn sie früh Lehrer oder Hortleiter erleben. Letztlich braucht es beide. Sowohl in der Krippe als auch im Hort arbeiten heute mehr Männer als früher.

Wie engagieren sich Väter heute im Hort?
Sie holen die Kinder heute häufiger ab also noch vor 22 Jahren, als ich anfing. Damals sah ich fast nur Mütter. Diese wiederum hatten Freude, dass ihre Kinder von einem Mann betreut wurden. Noch heute liegt die Organisation von Schule und Betreuung hauptsächlich bei den Müttern. Aber die Väter sind präsenter. Allerdings hängt das von der Schicht ab.

Mittlerweile haben alle Kinder Mobiltelefone. Wie hat das Gerät Ihren Alltag verändert?
Die Jungs reden fast nur noch übers Gamen, die Mädchen über das Chatten. Mobile Telefone sind im Hort nicht erlaubt. Neuerdings haben die Kinder aber digitale Uhren, womit sie über alles gut informiert sind.

Was motiviert Sie nach 22 Jahren, noch im Hort mit Kindern zu arbeiten?
Jeden Tag bringen die Kinder mich zum Schmunzeln und manchmal auch zum Lachen.

Dieser Artikel stammt aus dem Print-Magazin zur Ringier-Initiative EqualVoice.

Fehler gefunden? Jetzt melden