Professor Vetterli erklärt
Was es mit der «kleinen Welt» auf sich hat

Martin Vetterli ist Präsident der EPFL in Lausanne und führender Experte für Digitalisierung. Jede Woche erklärt er Begriffe aus der digitalen Welt.
Publiziert: 25.02.2018 um 16:08 Uhr
|
Aktualisiert: 12.09.2018 um 14:57 Uhr
Knotenpunkte vernetzen uns alle miteinander.
Foto: Getty Images
Martin Vetterli
Martin VetterliPräsident der EPFL Lausanne

Ich bin vor kurzem mit dem Flugzeug verreist, und wie so oft begann ich ein Gespräch mit meinem Sitznachbarn. Innerhalb von wenigen ­Sätzen stellten wir fest, dass wir tatsächlich eine gemeinsame ­Bekanntschaft hatten, und beide sagten wir unmittelbar: «Wie klein doch die Welt ist!» Lustigerweise ist der Ausdruck «kleine Welt» auch die Bezeichnung für eine Art von Vernetzung, die viele Phänomene von menschlichen Interaktionen bis hin zu Gehirnstrukturen beschreibt. Aber wie wurden diese entdeckt?

Der Brief für den Unbekannten


In den 1960er-Jahren entwarf der Sozialpsychologe Stanley Milgram ein berühmtes Brief­versendungsexperiment, im Zuge dessen er 160 Briefe mit dem Namen eines ­Bostoner ­Bürgers 160 zu­fällig ausge­wählten Personen gab, die in ­Nebraska lebten. Ihre Aufgabe: den Brief an die Person in Boston zu ­schicken. Die ­meisten von ihnen kannten den Adressaten nicht und hatten somit eine scheinbar unerfüll­bare Aufgabe. Aber natürlich kannten die ­meisten von ihnen zum ­Beispiel jemanden in ­Boston, an den sie den Brief ­weiterleiten konnten. Nach einer Zeit des Mäanderns kamen viele Briefe am Ziel an, und Milgram überwachte den Weg, den die Briefe jeweils ­nahmen. Das ­überraschende ­Ergebnis dieses Experiments war, dass im Durchschnitt nur etwa fünf ­Vermittler für die ­Briefe benötigt wurden, um den endgültigen ­Bestimmungsort zu erreichen.


Auch wenn es nicht unumstritten war, entdeckte dieses Experiment das Phänomen der «kleinen Welt» und das zugrunde liegende ­Muster, das als «Netzwerk der kleinen Welt» bezeichnet wird – und machte es populär. Diese Netzwerke sind das Herz vieler sozialer Interaktionen der ­phy­sischen wie auch der digi­talen Welt. Zum Beispiel ist es in ­sozialen Netzwerken wie ­Facebook oder LinkedIn sehr wahrscheinlich, dass zwischen Ihnen und ­irgendeinem belie­bigen der ­Milliarden Nutzer eine Verbindung durch fünf ­gemeinsame «Freunde» besteht.

Alles dreht sich um den Knotenpunkt


Aber das Schönste daran ist, dass diese Netzwerke uns ­erlauben, die übliche Struktur vieler Phänomene zu erkennen und zu ­berechnen. Zum Beispiel haben Kleine-Welt-Netzwerke ­typischerweise eine Vielzahl von ­sogenannten Knotenpunkten. Das sind Positionen im Netzwerk mit einer extrem hohen Anzahl von Verbindungen. Im Falle von sozialen Netzwerken sind diese Knotenpunkte die Leute mit ­einer extrem hohen Anzahl von «Freunden». Und im Falle von Flugmustern sind die Knotenpunkte Flughäfen wie die in ­Dubai oder London. Mobilitätsnetzwerke und soziale Medien haben ganz ähnlich zugrunde liegende Muster!


Daher kannten mein neuer Freund im Flugzeug und ich wahrscheinlich auch jemanden, der tatsächlich ziemlich viele Leute kennt. Wie uns ­Milgram und viele andere später beigebracht haben, stehen ­zwischen uns und jeder Person, einschliesslich des amerikanischen Präsidenten, nur etwa fünf ­Vermittler, also sechs Hände­drücke! Wenn ich allerdings noch einmal darüber nachdenke, war ich auf dem Weltwirtschafts­forum vor ein paar Wochen ­weniger als sechs Hände vom amerikanischen Präsidenten ­entfernt … kleine Welt!

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?