Professor Vetterli erklärt
Was braucht es für einen visionären Algorithmus?

Martin Vetterli ist Präsident der EPFL in Lausanne und führender Experte für Digitalisierung. Jede Woche erklärt er Begriffe aus der digitalen Welt.
Publiziert: 11.02.2018 um 16:01 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 22:30 Uhr
Martin Vetterli
Martin VetterliPräsident der EPFL Lausanne
Das Wissen, wie man perfekt navigieren kann, war schon im 2 Jahrhundert vor Christus da. Umsetzen konnten es die Menschen erst im letzten Jahrhundert.
Foto: REUTERS

Kürzlich war ich von Lausanne nach Zürich unterwegs und dachte darüber nach, dass es in der Schweiz doch recht schwierig ist, sich komplett verloren zu fühlen. Nahezu überall kann man zu den umliegenden Bergen hinaufschauen und einige wesentliche Orientierungspunkte ausmachen.

Aber stellen Sie sich vor, Sie wären auf einem mittelalterlichen Schiff auf dem offenen Atlantik: Wie können Sie feststellen, wo Sie sich be­finden, ohne ein Positionsbestimmungssystem einzusetzen?

Der Breitengrad ist zwar (dank Polarstern und Sonne) relativ leicht herauszufinden, aber das Ermitteln der geografischen Länge hat über die Jahrhunderte zahlreiche Wissenschaftler vor eine ziemliche Herausforderung gestellt.

Es gibt jedoch ein sehr einfaches Rezept, mit dem sich anhand des Sonnenstandes Ihr Längengrad bestimmen lässt: Sie warten auf den Augenblick, in dem die Sonne ihren Höchststand erreicht (Mittag), und berechnen die Differenz gegenüber dem Zeitpunkt, als sie an einem Referenzort (wie dem Greenwich-Meridian) in Mittagsposi­tion gestanden hat. Da sich die Erde pro Stunde um 15 Grad dreht, können Sie jetzt mühelos Ihren Längengrad ermitteln.

Es gibt jedoch einen Haken: Sie benötigen eine präzise Methode, um die Zeit am Referenzort zu kennen – und im Mittelalter konnte man nicht einfach «aktuelle Zeit in Greenwich» googeln.

Dennoch funktioniert das Rezept in der Theorie perfekt, und der Erste, der diesen Längenalgorithmus im 2. Jahrhundert v. Chr. ­beschrieb, war Hipparchos. Zwar war die Idee vollkommen richtig, doch die Suche nach ­einer zuverlässigen Zeitreferenz dauerte zweitausend Jahre.

Bis ins späte 18. Jahrhundert gelang es niemandem, eine mechanische Uhr mit der erforderlichen Genauigkeit zu bauen. Und selbst im 18. Jahrhundert galt es als riskant, sich auf ein fragiles, an Bord mitgeführtes mechanisches Gerät zu verlassen. Stattdessen kam eine weitaus kompliziertere Berechnung zum Einsatz, die auf jähr­lichen Almanachen beruhte, die die Entfernung zwischen dem Mond und anderen Himmelskörpern vorhersagten.

Erst im Jahr 1910 begann ein Radiosender auf dem Eiffelturm mit der Aussendung einer Referenzzeit für alle Schiffe auf See. Der Algorithmus des Hipparchos konnte damit endlich nutzbar gemacht werden. Heutzutage haben wir die Sterne und Planeten natürlich vollständig durch eine von Menschenhand geschaffene Infrastruktur aus Satelliten abgelöst. Länge und Breite können somit mühelos jederzeit und überall bestimmt ­werden. Der Mechanismus eines solchen Systems würde ­Hipparchos mit Stolz erfüllen!

Ein GPS-Empfänger berechnet nämlich ebenfalls die Differenz zwischen ­lokaler Zeit und dem Zeitsignal der Atomuhren der Satelliten. Der algorithmische Ansatz ist dem Verfahren von Hipparchos sehr ähnlich.

Wie Sie sehen, sind Algorithmen keineswegs allein eine moderne Erfindung. Es handelt sich schlicht um Rezepte zur Lösung einer bestimmten Frage oder ­eines gegebenen Problems. Manchmal muss sich ein guter Algorithmus jahrhundertelang gedulden, bis die notwendige Technologie vorhanden ist, ­damit er tatsächlich genutzt ­werden kann.

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