Professor Vetterli erklärt
Digitale Mündigkeit

Martin Vetterli ist Präsident der EPFL in Lausanne und führender Experte für Digitalisierung. Jede Woche erklärt er Begriffe aus der digitalen Welt.
Publiziert: 05.08.2018 um 16:28 Uhr
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Aktualisiert: 17.10.2018 um 19:13 Uhr
Eigentlich dachte unser Kolumnist, dass das Buch "1984" von George Orwell für immer Fiktion bleiben wird.
Foto: Keystone/AP Signet/
Martin Vetterli
Martin VetterliPräsident der EPFL Lausanne

In der High School habe ich George Orwells berühmten Roman «1984» gelesen. Er beschreibt einen totalitären Staat, in dem jeder perfekt auf die Ideen des Regimes abgerichtet ist, wäh-rend eine «Gedankenpolizei» «Gedankenverbrechen» aufspürt. Ich habe es lange vor dem Jahr 1984 gelesen, und da keine solche Dystopie im Kommen schien, genoss ich den Roman als eine reine Fiktion. Aber da habe ich mich geirrt.

Wenige Jahre später, 1989, wurde der Fichenskandal in der Schweiz bekannt. Er enthüllte, dass der Schweizer Staat heimlich ein System der physischen Massenüberwachung eingeführt hatte, um antischweizerische Elemente in der Bevölkerung aufzuspüren. Der Staat hatte innerhalb von etwa zehn Jahren fast eine Million Papierakten von Schweizern in geheimen Archiven gesammelt! Das Orwellhafteste daran: Es gab sogar eine Fiche über meine Familie.

Vor ein paar Monaten haben wir von dem Cambridge-Analytica-Skandal erfahren. Das Unternehmen analysierte skandalöserweise 87 Millionen Facebook-Profile und nutzte Milliarden von Datenpunkten für gezielte politische Werbung. In Zeitungen auf der ganzen Welt wurde zu Recht angemerkt, dass die Analyse ohne klare Zustimmung und Kenntnis der Nutzer durchgeführt wurde. Doch wie sollten sich die Nutzer dessen bewusst sein, wenn sie gar nicht wissen, was mit ihren persönlichen Daten gemacht werden kann? Können Nutzer solche Missbräuche voraussehen, wenn sie die digitale Welt nicht verstehen?

Die letzten Jahrzehnte haben uns die unvermeidliche und schnell wachsende Notwendigkeit aufgezeigt, unser grundlegendes Verständnis der digitalen Welt zu vertiefen. Ähnlich wie bei Johann Heinrich Pestalozzi, der im 19. Jahrhundert Anreize für die Schweizer Bevölkerung geschaffen hat, Lesen und Schreiben zu lernen, brauchen wir einen Anstoss, um alle Menschen dazu zu bringen, die Grundlagen der digitalen Welt zu verstehen. Meiner Meinung nach ist eine neue Form der «digitalen Mündigkeit» nötig, damit die Bürger verstehen, was mit ihren persönlichen Daten angestellt werden kann, um sich somit des Datenmissbrauch-problems bewusst zu werden und es unter Kontrolle halten zu können.

Bis zur digitalen Kompetenz ist es noch ein weiter Weg, sie betrifft nicht nur den Mann oder die Frau auf der Strasse. Die Anhörungen von Mark Zuckerberg im US-Senat nach dem Cambridge-Analytica-Skandal zeigten, dass auch Spitzenpolitiker noch digitale Analphabeten sind. Ein US-Senator fragte etwa allen Ernstes, wie Mister Zuckerberg ein Geschäftsmodell aufrechterhalten könne, bei dem die Nutzer sich kostenlos anmelden können. Damit demonstrierte er seinen kompletten Mangel an Verständnis für neue digitale Geschäftsmodelle! Ein anderer Senator fragte, wie viele «Datenkategorien» Facebook sammle.Ein weitreichendes Verständnis der digitalen Welt wird für alle Bürger entscheidend sein, um ein vernünftiges Funktionieren der Staaten zu gewährleisten. Andernfalls könnte eine Dystopie wie im Roman «1984» eines Tages Wirklichkeit werden.

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