Die ominöse Reproduktionszahl steht im Mittelpunkt. Diese muss unter 1 sein, damit die Ausbreitung des Coronavirus verlangsamt und gebremst werden kann. Sprich: Eine neu infizierte Person steckt im Schnitt weniger als eine weitere Person an.
Mit den bisherigen Massnahmen ist das schwierig zu erreichen. Ein im Wissenschafts-Fachmagazin «Science» publizierter Forschungsartikel sagt nun: Kombiniert man bisherige Massnahmen mit einer Tracking-App, kann man die Reproduktionszahl auf unter 1 senken. Und noch besser: Eine solche App kann auch helfen, Massnahmen wie Schulschliessungen, Ausgehverbote, Homeoffice und so weiter schrittweise zurückzufahren.
Dabei geht es darum, die Nutzer direkt zu warnen, dass sie Kontakt mit einer angesteckten Person hatten.
Mit der App eine Rückkehr zur Normalität
«Es ist ein erreichbares Ziel, über solche Apps die Zeitverzögerung in der Meldetätigkeit zu überbrücken», glaubt der deutsche Virologe Christian Drosten. Im berechneten Modell bringe eine App fast so viel wie ein tatsächlicher Lockdown.
Der Vorteil der App ist auch, dass man sie variabel einstellen kann. In einer Region mit vielen Ansteckungen könnten Kontakte schon gewarnt werden, sobald jemand Symptome hat, nicht erst bei einem positiven Test. So hätten die Behörden auch eine einfache Interventionsmöglichkeit.
«Das ist eine echte Perspektive in dieser auch mit einer gewissen Verzweiflung geführten Diskussion, wie wir aus diesen Massnahmen rauskommen», sagt Drosten. Er sei vom Gedanken fasziniert, dass man mit einer App eine feine Steuerung hat, mit der schrittweise wieder ein normales Leben möglich.
Auch der Schweizer Epidemiologe Marcel Salathé von der ETH Lausanne ist vorsichtig optimistisch und hat auf Twitter mehrmals über die neuen Erkenntnisse zu Tracking-Apps geschrieben. «Ich glaube in Kombination mit anderen vernünftigen Massnahmen könnten sie es ermöglichen, Schritt für Schritt in eine normales Leben zurückzukehren.
Auf eine App hofft auch der Bund. Mathias Egger, der Leiter der nationalen Forscher-Taskforce, zeigte sich am Freitag an der Pressekonferenz zuversichtlich, dass diese einen wichtigen Beitrag zur Eindämmung der Corona-Pandemie habe. Schweizer Firmen und die ETH Zürich und Lausanne arbeiten im europäischen Verbund aber schon an einer solchen App.
46 Prozent der Ansteckungen vor den Symptomen
Das Problem in der jetzigen Situation: Rund 46 Prozent der Ansteckungen passieren, bevor ein Infizierter selber Symptome merkt. Das macht die Senkung der Ansteckungen auch besonders schwierig, da man im jetzigen System nur Menschen isolieren kann, die den Virus bemerken.
Die neuen Daten zeigen: Auch wenn man einen Erkrankten sofort isoliert, sobald man Symptome bemerkt, sind die von ihm bis dahin Angesteckten auch schon wieder infektiös. Das alles berichtet Christian Drosten in seinem Podcast zum Coronavirus von NDR.
«Mit einer einfachen Identifikation der Fälle und einer Kontaktverfolgung kommt man laut Studie zu spät», erklärt Drosten. Es zeige sich, dass es auf jeden Tag ankomme, dass man Menschen so schnell wie möglich aus der Infektionskette rausnehmen müsse.
App verkürzt die Warnzeit für potenziell Infizierte
Laut der publizierten Studie in «Science» kann man nur mit Fallverfolgung die Epidemie nicht stoppen. Und auch ein beschränkter Lockdown wie in Deutschland oder der Schweiz reicht wohl nicht aus, um die Übertragungszahlen zu senken.
Nun wird eine noch fiktive Corona-App in die Berechnung einbezogen. Dieser macht alle Prozesse schneller, vom Test bis zur Warnung von potenziell Infizierten.
Die App könnte so funktionieren: Sobald man Symptome verspürt, füllt man einen Fragebogen aus und wird für einen Test angemeldet. Sobald jemand positiv getestet wurde, kann die App alle Kontakte warnen, die potenziell angesteckt wurden. Die Daten sind dabei verschlüsselt und anonym.
Dies ist möglich, weil Bluetooth ziemlich genau messen kann, wie lange sich zwei Menschen beziehungsweise zwei Smartphones einander auf kurzer Distanz begegnet sind. Allerdings funktioniert das nur, wenn auch viele Leute die App nutzen und auf die Empfehlungen reagieren.
Gut wären zum Beispiel 60 Prozent der Bevölkerung. Zudem gibt es technische Fragen, so ist es etwa schwieriger, iPhones einzubeziehen, da Apple restriktiver mit der Zulassung von Corona-Apps umgeht.
Auch Schweizer Firmen arbeiten an App
Ähnliche Apps wurden in Asien eingesetzt und haben auch bereits Programmierer in Europa inspiriert. Ab Donnerstag kommt in Österreich erstmals eine solche Corona-App des Roten Kreuzes zum Einsatz. Hier werden automatisch die Kontakte von anderen Handys mit derselben App gespeichert und diese bei einem positiven Test gewarnt.
Auf europäischer Ebene entwickeln Universitäten und Techfirmen, darunter die ETH Zürich und die Uni Lausanne, an einem einheitlichen Protokoll für eine solche App. Diese Initiative nennt sich Pan-European Privacy-Preserving Proximity Tracing (Pepp-PT). Es geht hier auch darum, Standards zu haben, um eine solche Verfolgung anonym und unter Wahrung des Datenschutzes zu ermöglichen. Die Apps sollen auch die Nutzer nicht tracken, sondern im Fall der Fälle die Kontakte nachverfolgen können.
Teil von Pepp-PT ist auch der Zürcher Softwareentwickler Ubique, der etwa die SBB-App oder «Meteo Schweiz» programmiert hat. Ubique hat bereits einen funktionierende Testversion, deren Technik man einfach in andere Apps integrieren kann.