92 Prozent aller Sexualdelikte werden nie angezeigt. Was schreckt Opfer davon ab, sich an die Polizei zu wenden? Und was passiert, wenn sie doch Anzeige erstatten? Dieser Frage geht Blick-TV-Redaktorin Sylwina Spiess (31) in der dritten Folge der Sendung «sichtbar» auf den Grund.
«Ich habe nach einer Vergewaltigung bei der Polizei Anzeige erstattet und habe sie wieder zurückgezogen, weil mich der Täter erpresst hat», erzählt eine Betroffene aus der Community. «Ausserdem hat mir die Polizistin bereits bei der Befragung gesagt, dass ich mit der Anzeige fast keine Chance hätte. Es stehe Aussage gegen Aussage.»
«Man gab mir das Gefühl, ich sei selbst schuld»
Auch die Schweizer Influencerin Morena Diaz (28) hat Anzeige erstattet, nachdem sie vor zwei Jahren von einem Kollegen sexuell genötigt worden ist. «Ich habe zwei Einvernahmen hinter mir und jetzt steht die Gerichtsverhandlung an. Ich wurde immer wieder gefragt, wie oft ich mich gewehrt habe und wie stark und ob der Täter gemerkt hat, dass ich Nein sage», erzählt sie im Vorfeld der Gerichtsverhandlung zu Blick TV.
Diese Erfahrung haben viele Betroffene gemacht: «Die ganze Untersuchung bei der Rechtsmedizin und die Befragung bei der Polizei habe ich als schrecklich empfunden», erzählt eine andere Person aus der Community. Ich musste mich geradezu rechtfertigen und man gab mir das Gefühl, ich sei selbst schuld»
Auf dem Weg zur Gerichtsverhandlung
Angst, dass einem nicht geglaubt wird, ist der häufigste Grund, warum Opfer keine Anzeige erstatten. Auch Diaz wollte erst nicht zur Polizei gehen. Kommentare wie «wieso hast du ihn nicht angezeigt?» und «du bist schuld, wenn ein Vergewaltiger weiter draussen rumläuft» haben sie aber dann doch dazu ermutigt, den Täter anzuzeigen.
Ein Jahr später ist Morena auf dem Weg zur Gerichtsverhandlung. Blick-Redaktorin Sylwina Spiess (31) begleitet sie auf ihrem Weg. Das Gericht spricht den Täter der sexuellen Nötigung schuldig. Er kassiert eine bedingte Freiheitsstrafe von einem Jahr und muss für fünf Jahre die Schweiz verlassen. Sein Anwalt hat bereits Berufung angemeldet.
Gesetze sollen angepasst werden
Das Schweizer Gesetz wurde in Bezug auf Sexualdelikte seit über 30 Jahren nicht mehr angepasst. Der Vergewaltigungsbegriff soll nun aber neu definiert werden. Das fordern die SP und Amnesty International Schweiz.
Das Bundesamt für Justiz arbeitet an einer Revision des Sexualstrafrechts. Dabei will man auch prüfen, wie das Recht sexuelle Handlungen gegen den Willen einer Person behandeln soll, wenn es weder zu Gewalt noch zu Drohungen kam – also etwa bei sexueller Belästigung.
Bei der Revision wird geprüft, ob eine Vergewaltigung zukünftig weiterhin als Antrags- oder neu als Offizialdelikt behandelt und verfolgt werden soll. Zudem will man festlegen, was alles unter die Definition einer Vergewaltigung fällt.
Vor jedem Kuss fragen?
Für Diaz ist klar: Nur «Ja» heisst «Ja». Soll man nun vor jedem Kuss fragen, ob das okay ist? Diese Frage hat Redaktorin Sylwina Spiess der Community gestellt.
Die Antworten dazu sind sehr unterschiedlich: «Ein Konsensprinzip im Gesetz wäre sozusagen ein gesetzlich verankerter Dirty-Talk», schreibt eine Leserin.
Jemand anderes findet, dass die Frage die Stimmung ruinieren würde und man es an der Körpersprache sehr gut ansehen kann, ob das Gegenüber mit einem Kuss einverstanden ist.
Andere schreiben, dass man immer fragen soll, wenn man unsicher ist. Das sei für viele Situationen gesetzlich verankert. Doch wenn es um Sex gehe, ist keine gesetzliche Grundlage für den Konsens vorhanden, was seltsam sei.