Obdachlose Menschen in der Schweiz fristen ein Schattendasein. Und doch leben mitten unter uns Menschen, die praktisch alles verloren haben – ausser den Dingen, die sie auf dem Leib tragen. Geschichten von Obdachlosigkeit sind oft auch Geschichten von Armut, sozialer Ausgrenzung, Überlebenskampf und Suchterfahrungen – und das mitten in einem der weltweit reichsten Länder.
Die Blick TV-Serie «Undercover» setzte sich intensiv mit obdachlosen Menschen auseinander und dokumentierte ihre Verhältnisse. Auch in der Blick-Community gibt es Personen, die einst auf der Strasse gelebt haben. Es handelt sich dabei um Menschen, die den Weg zurück in einen geregelten Alltag gefunden haben – und doch gehen sie mit einem «Rucksack» durch ihr Leben. Daher haben wir die Namen der Leserinnen und Leser geändert.
Katja (45)*: «Das Leben ist traurig und perspektivlos»
«Ich, Mitte vierzig, mit guter Bildung, lebte zwei Jahre auf der Strasse. Heute bin ich verheiratet und Mutter eines Mädchens. Geschafft habe ich es dank der Schwiegermutter, die für die Wohnung bürgte. Und dank meinem Mann, der als Einziger noch an mich glaubte. Auf der Strasse habe ich weggeworfene Brötchen gegessen. Stehlen, betteln oder Prostitution waren keine Option für mich. Der Winter macht einen kaputt. Mein Alltag damals: Irgendwie die Zeit totschlagen. Manchmal bin ich einen halben Tag durch die Natur gelaufen. Wichtig war, nicht zu viel mit anderen von der Strasse zu tun zu haben.
Wenn du obdachlos bist, lebt alles an dir vorbei. Eine gemütliche Stube, einmal auf ein Sofa sitzen – das war das Highlight des Monats. Man schaut mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid zu jedem auf, der eine Wohnung hat, auch wenn es nur eine einfache Absteige ist. Die Befriedigung der Grundbedürfnisse ist Stress pur: Wo kochen, wo essen, wo duschen, wo Wäsche machen, wohin mit den persönlichen Sachen? Das Leben ist traurig und perspektivlos – nicht einmal ein Studio kann man mieten, wenn man Betreibungen hat.»
Andreas (53)*: «Wir wurden wie Schwerverbrecher behandelt»
«Ich hatte 1989 einen schweren Motorradunfall und danach einen gelähmten Arm, welcher Phantomschmerzen verursachte. Die Ärzte haben mir das einzige Mittel gegen diese Schmerzen, Morphium, verwehrt und so bin ich in die Heroinsucht hineingeschlittert. Ich musste meine IV-Rente komplett für Drogen ausgeben, nur damit ich einigermassen schmerzfrei leben konnte. Ich verlor meine Einzimmerwohnung und lebte dann viele Monate auf der Strasse, vor allem auf dem Platzspitz. Behandelt wurden wir wie Schwerverbrecher, und Hilfe gab es lange nicht. Ich habe dann nach fünfjährigem Konsum selbst aus der Krise gefunden und wieder 100 Prozent gearbeitet.
Vor fünf Jahren musste ich wegen Arthrose in der gesunden Hand aufhören zu arbeiten und bekam mit viel Misstrauen und Demütigungen schliesslich eine IV-Rente. Die Rente der Pensionskasse wurde aufs Minimum gekürzt. Ich hatte bis Anfang Jahr noch Angst, dass ich wieder obdachlos werden könnte. Bevor mir dies wieder droht, habe ich mich entschieden, diesem ach so sozialen Land den Rücken zu kehren und bin nun daran, auszuwandern. Ich könnte über meine Erlebnisse in diesen Zeiten seit 1989 eines oder mehrere Bücher schreiben, wie in diesem Land wirklich mit Menschen aus Randgruppen umgegangen wird. Ich hoffe, dass das Martyrium für mich nun endlich zu Ende ist.»
Janina (42)*: «Bin froh, ein Dach über dem Kopf zu haben»
«Mittlerweile bin ich dreifache Mutter. Ich habe eine Lehre als Autolackiererin gemacht und habe mit Anfang 20 zwei Jahre lang auf der Strasse gelebt – in Bern, Biel und Zürich. Ich war heroinsüchtig. Das Einzige, was mir geblieben ist, ist das Methadon, ansonsten bin ich seit 19 Jahren absolut clean und schaffe es mal mehr, mal weniger gut, ein normales Leben zu führen. Ich bin froh um diese Zeit: Sie hat mir aufgezeigt, dass es immer schlimmer kommen kann und ich bin glücklich, ein Dach über dem Kopf zu haben und gesund zu sein. Ich bin unglaublich stolz auf meine Kinder – mein Ältester ist 21, raucht nicht, trinkt nicht und ist ein grossartiger Mensch – und dass ich ihnen viel mit auf den Weg geben konnte.»
Richard (50)*: «Ich war mehrere Male obdachlos»
«Meine Geschichte ist lang und mit vielen Hürden gepflastert. Ich kam als 20-jähriger wegen Fremdgefährdung in die Psychiatrie, zwang mich, musste Medikamente nehmen, und kam gar zweimal in den Hochsicherheitstrakt, weil ich mich dagegen wehrte. Nach sieben Monaten kam ich raus mit IV-Eingliederung inklusive Beistand, schlussendlich war ich im Leben zweimal IV-Rentner, hatte drei Beistände, bis ich mithilfe einer ehemaligen Partnerin und dem Hilfswerk Pfarrer Sieber wieder zurück in die Wirtschaft fand. 13 Jahre arbeitete ich in der Call-Center-Branche arbeitete, sieben Jahre davon als Teamleiter.
Obdachlos war ich einige Male: Weil ich mich teils in einem schlechten Umfeld befand, etwa auf der Gasse in Winterthur, da ich nicht in die Institutionen hinein passte oder mich im Wohnheim nicht an die Regeln hielt oder weil ich mich nicht mehr mit Kollegen verstand, die mich aufnahmen. Ausserdem verschenkte ich 1999 meinen gesamten Besitz und wollte auf dem Jakobsweg pilgern. Dank der Ex-Partnerin, meiner Ehefrau und dank Gottes Hilfe fand ich einen guten Weg, machte mich jedoch ausgerechnet letztes Jahr selbständig, wobei Corona mein Start-up ausbremste. In Zukunft plane ich ein Crowdfunding.»
* Namen geändert