Von Michelle Schwarzenbach (Text) und Remo Nägeli (Fotos)
Nach der Schule stürmt Leandro in die Blockwohnung am Rand von Solothurn, knallt seine Schuhe in die Ecke, leert in einem Zug ein Glas Rivella. Er rülpst, hält verstohlen die Hand vor den Mund, grinst. Ein ganz normaler Siebenjähriger.
Und doch ist Leandro ein bisschen anders als andere Kinder. Ein Bus fährt ihn jeden Morgen in die Sonderschule. Alleine würde er den Weg nicht schaffen. Weil er blindlings über den Fussgängerstreifen rennt. Oder unterwegs die Zeit vergisst.
Leandro hat ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, kurz ADHS. Er kann die Welt nicht filtern, für ihn ist jedes Detail wichtig.
«Ich brauche unendlich viel Geduld mit ihm», sagt Susanna Schwab (44) und fährt ihrem Sohn durch die Strubelifrisur. «Gäll, ich muss dir unsere Regeln immer wieder erklären.» Leandro hört nicht hin, er kuschelt mit Stoffbär Schnuffelchen.
Schwab lebt getrennt von Leandros Vater und hat noch zwei Söhne aus einer früheren Beziehung: Yann (18) und Orlando (16). Der Ältere ist letzten Sommer ausgezogen. «Ihm wurde alles zu viel», sagt Schwab.
Tatsächlich haben Susanna und ihre Buben eine schwierige Zeit hinter sich. Nach einem heftigen Schwindelanfall im Herbst 2016 fehlen der dreifachen Mama plötzlich die Wörter – «wie bei einem Lückentext früher in der Schule». Ihre Fingerspitzen sind taub, die Dinge fallen ihr aus den Händen. Doch die Ärzte wissen nicht, was ihr fehlt. Im Sommer 2017 klettert plötzlich ein lähmender Schmerz in ihren rechten Arm. Schwab kann Leandro nicht mehr beim Anziehen helfen, nicht mehr haushalten. Nach einer Rückenmarkpunktion bekommt sie endlich eine Diagnose: Multiple Sklerose, kurz MS.
Starke Medikamente helfen. «Aber mein Hirn war vernebelt, ich fühlte nichts mehr.» Susanna Schwab erinnert sich nicht gerne an diese Zeit. Besonders der kleine Leandro ist damals verunsichert, er klebt an seiner Mama, bekommt immer häufiger Wutanfälle. «Ich hatte keine Nerven mehr», sagt Schwab. Zwar hilft Orlando, ihr Zweitältester, wo er kann, «aber das war ja nicht sein Job».
Schwab sucht Hilfe beim Schweizerischen Roten Kreuz Solothurn. Allein im letzten Jahr hat das SRK schweizweit über 110'000 Betreuungsstunden geleistet – für knapp 4500 Familien.
Eine der SRK-Betreuerinnen ist Harieta Friedli (47), gelernte Ergotherapeutin. Seit einem knappen Jahr schaut sie jeden zweiten Samstag drei Stunden zu Leandro, geht raus mit ihm, spazieren oder Fussball spielen.
«Der Spass steht zuoberst», sagt Friedli. Leandro sei ihr sofort ans Herz gewachsen. «Er ist neugierig und aufgeschlossen, nach unserer ersten Begegnung schlang er seine Arme um mich.» Schwab nickt. Sie ist froh, hat Leandro schnell Vertrauen gefasst.
«Wenn er weg ist, gehe ich meistens schlafen, danach bin ich viel geduldiger mit ihm.» Leandro sei ein Freigeist. «Er will die Welt entdecken. Aber meine Energie reicht nicht aus, um ihn an der Hand zu nehmen.» Darum sei Harieta für Leandro auch ein Tor zur Welt. Mittlerweile lebt Schwab, die zuletzt als Community-Managerin gearbeitet hat, von einer hundertprozentigen IV-Rente. Ihre Armschmerzen sind verschwunden, die Müdigkeit ist geblieben. Darum möchte sie nicht auf Harieta Friedli verzichten. Sie sagt: «Sein Kind zu lieben, bedeutet auch zuzugeben, dass man es alleine nicht schafft.»
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