Von Jessica Pfister
Ein erfolgreicher Musiker zu werden – das ist der grösste Traum von Daniel Lopez, 22. «Ich möchte meiner Familie ein besseres Leben ermöglichen!» Schon als kleiner Junge läuft Dani mit Kopfhörern durch Ciudad Delgado, ein Armenquartier in El Salvadors Hauptstadt, und hört Rap-Musik. Später komponiert er in der Ein-Zimmer-Wellblechhütte, die er mit seiner 86-jährigen Grossmutter und sieben weiteren Verwandten teilt, auf einem alten Laptop Beats und Songtexte.
Voller Stolz präsentiert er diese heute Nemo Mettler, 19. Der Musiker aus Biel hat in der Schweiz das geschafft, wovon Dani träumt: Er räumte vier Swiss Music Awards ab, stand mit seinem Song «Du» auf Platz 4 der Schweizer Charts. «Ich habe deine Songs auf Youtube gehört. Ich verstehe zwar die Texte nicht. Aber der Sound ist echt gut!», sagt Dani.
Die beiden Jungs können sich nicht nur dank der Spanisch-Übersetzerin verständigen. «Die Leidenschaft für Musik verbindet», so Nemo, der mit dem Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) nach El Salvador in Zentralamerika gereist ist.
Der Tod und die Liebe
«Wovon handeln deine Texte?», will Nemo von Dani wissen. «Vom Leben in der Stadt, von Gewalt und Drogen, aber auch von Liebe», sagt er, spielt ihm einen Beat vor und beginnt zu rappen. Nemo nickt mit dem Kopf zum Takt. Im Song spricht Dani über drei seiner Freunde, die nicht mehr am Leben sind. «Einer starb an Drogen, der andere hatte einen Unfall, der dritte wurde erschossen.»
El Salvadors Hauptstadt San Salvador gehört zu den gefährlichsten Orten der Welt. Pro Nacht werden im Schnitt zehn Menschen umgebracht. Im ganzen Land, das gerade mal halb so gross ist wie die Schweiz, regieren die Gangs, Maras genannt, und terrorisieren die Menschen.
«Mit meinen Songs möchte ich aufzeigen, wie schwierig das Leben für die Jungen in El Salvador ist», erklärt Dani. Seine Mutter starb, als er noch jung war. «Und mein Vater war kein Vorbild.» Mit zwölf Jahren bricht er die Schule ab, verkauft auf der Strasse alte Handys und andere Elektrogeräte. «Niemand interessierte sich für meine Zukunft.» Für die Maras sind Jugendliche wie Dani leichte Beute. Sie preisen sich als Ersatzfamilie an, zwingen die Jugendlichen aber bald zur Arbeit. Etwa als Späher, welche die unsichtbaren Grenzen zwischen den Machtgebieten der Maras beobachten. Oder als harmlos aussehende Drogenkuriere.
Für Dani war klar: «So ein Leben will ich nicht.» Als das Rote Kreuz vor drei Jahren in seinem Quartier zu arbeiten anfängt, sieht er seine Chance. Zusammen mit Freunden und der Unterstützung des SRK baut er einen Spielplatz im Quartier auf. «Vorher gab es hier nichts, die Kinder sassen nur zu Hause rum.» Durch die Projekte kommt Dani mit Leuten in Kontakt, die an ihn glauben. «Das veränderte mein Leben radikal.» Er findet wieder Anschluss an die Schule. Heute macht er eine Ausbildung zum Pflegefachangestellten. Danach möchte er studieren. «Die Musik bleibt aber mein grösster Traum!»
Weder Job noch Ausbildung
Auf der Rückfahrt von Danis Haus in ein sicheres Quartier in San Salvador schaut Nemo nachdenklich aus dem Fenster. «Wenn ich von diesen Problemen höre, kommen mir unsere lächerlich vor.» Er selbst ist behütet in einer kreativen Familie in Biel aufgewachsen – der Vater Ideenerfinder, die Mutter Journalistin. Der Name Nemo kommt vom Lateinischen «niemand». «Meine Eltern dachten, wenn ich niemand bin, kann ich alles werden.»
In El Salvador ist ein Viertel der Jugendlichen sogenannte «ni trabajan», «ni estudian» – sie haben weder Job noch Ausbildung. Zu gefährlich ist der Wechsel in die Oberstufe, weil diese in einem Quartier einer anderen Gang liegt, zu wenig Chancen geben Arbeitgebern den Jugendlichen aus den Armenvierteln. Das SRK unterstützt deshalb Projekte zur Verbesserung der individuellen Lebensperspektiven – etwa Bildungsangebote, die Jugendliche nutzen können. In der Hauptstadt San Salvador sind es 3400 Jugendliche, die davon profitieren.
Dazu gehören Manuel Rodríguez, 23, und seine Freundin Katerine, 21. Als Nemo die beiden in der Backstube ihrer «Panadería» besucht, riecht es nach frischen Brötli. Manuel streckt Nemo ein kleines Weissbrot entgegen. «Mhh, wie Weggli.» Das SRK hat Manuel einen Bäckerkurs bezahlt, die Teig- und Backmaschine zur Verfügung gestellt. Heute beliefert er das Quartier mit Brötchen, Pizza und Süssgebäck. «Wir danken Gott und dem Roten Kreuz, dass wir einen Job haben.»
«Hier spüre ich Hoffnung»
Nemo hat nach der Sekundarschule ebenfalls eine Lehre angefangen – als Koch. «Ich merkte aber schnell, dass die Musik meine Zukunft ist.» Mit 80er-Jahre-Musik aufgewachsen, entdeckt er mit 13 den Rap – und misst sich im Internet mit der Konkurrenz. Zurzeit hat er sich eine Auszeit von seinem Musikstudium an der Hochschule für Gestaltung in Zürich genommen, um an neuen Songs zu feilen.
Dass der Erfolg ihm nicht in den Kopf gestiegen ist, merkt man in El Salvador. An einem Skateboard-Contest führt eine Gruppe von Jugendlichen zu seinem Song «Ke Bock» einen Tanz vor. Nemo wird rot vor Verlegenheit. Den Park haben Junge im Quartier mithilfe des SRK aufgebaut. «Hier spüre ich Hoffnung», sagt Nemo, stellt sich ans Keyboard und performt seinen Liebessong «Du». Dani setzt sich spontan ans Schlagzeug.
Etwas abseits im Publikum steht eine hübsche junge Frau mit einem Baby im Arm. Es ist Danis Freundin Janida mit dem vier Monate alten Söhnchen Benjamin. Sie arbeitet im Spital, zieht mithilfe von Dani den Kleinen gross. «Er soll es besser haben als ich», sagt Dani. Nemo nimmt den Kleinen in den Arm. «Ich mag Kinder sehr.» Für eine Familie ist es dem Single aber noch zu früh. «Wir haben im Gegensatz zu den Jungen hier so viele Chancen. Die müssen wir nutzen!» Dann gibt es eine dicke Umarmung für Dani. Einen von ihm produzierten Beat nimmt Nemo in die Schweiz mit. «Ich möchte ihn ein paar Produzenten zeigen.» Danis Traum von einer Musikkarriere geht weiter.