Stromer im PS-Rausch
Warum haben neue E-Autos so viel Leistung?

Über 400, über 600, ja auch mal 1000 PS und mehr scheinen bei Elektroautos zum Normalmass zu werden. Warum bauen die Hersteller nicht lieber weniger Power und mehr Reichweite ein? Weil die Gleichung bei E-Autos schlicht nicht stimmt.
Publiziert: 18.08.2023 um 08:14 Uhr
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Aktualisiert: 18.08.2023 um 15:33 Uhr
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Leistung im Überfluss: Der neue Rimac Nevera leistet sagenhafte 1914 PS, soll dank mächtiger 120-kWh-Batterie dennoch fast 500 Kilometer weit kommen. Wie geht das?
Foto: Zvg
Andreas Engel und Timothy Pfannkuchen

In den Kommentaren auf blick.ch taucht eine Frage von irritierten Leserinnen und Lesern beim Thema E-Mobilität immer wieder auf: Wieso haben Elektroautos häufig so viele PS unter der Haube? Die weitergehende Vermutung hinter der Frage: Wenn die Stromer 400, 600, ja manchmal sogar über 1000 PS Spitzenleistung wie etwa die aktuellen Tesla-Plaid-Modelle S und X oder der neue US-Stromer Lucid Air Touring abrufen können, muss darunter doch zwangsläufig die Reichweite leiden – einfache Physik, oder? Nein, denn die Gleichung «viel Power gleich viel Durst gleich wenig Reichweite» stimmt bei E-Autos im Unterschied zu Verbrennern nicht mehr.

Klar braucht auch ein E-Auto mit 400 PS tendenziell mehr Strom als eines mit 100 PS (wir sprechen hier der Einfachheit halber von PS statt kW), schon des Sprintspasses wegen. Und natürlich braucht niemand 400 PS. Aber die Kunden lieben es – und der Reichweitenunterschied zwischen stärker und schwächer motorisierten Elektroautos ist viel geringer als erwartet.

Doppelte Leistung, fast gleiche Reichweite

Ein aktuelles Beispiel ist die in Europa noch weitgehend unbekannte Edeltochter Zeekr des chinesischen E-Auto-Giganten Geely. Kurz nach der Einführung des kompakten Elektro-SUVs Zeekr X Ende Jahr soll schon wenig später der sportliche Luxus-Stromer 001 den Weg nach Europa finden. Er wird sowohl als Long-Range-Version mit 272 PS und Heckantrieb als auch als potente Privilege-Variante mit 544 PS und Allrad zu haben sein. Beide Modelle haben einen 100 Kilowattstunden grossen Akku im Unterboden verbaut. Und trotz doppelt so hoher Leistung kommt die Topversion gerade mal 40 Kilometer weniger weit als der auf Reichweite gebürstete Long Range – 580 gegenüber 620 Kilometer.

Elektro ist viel effizienter

Wie ist das möglich, bedeutete eine Verdoppelung der Leistung bei Verbrennungsmotoren doch immer einen krassen Mehrverbrauch? Ganz einfach: Elektromotoren sind deutlich effizienter und arbeiten mit einem Wirkungsgrad von bis zu 95 statt nur maximal 45 Prozent bei Verbrennern. Ein Achtzylinder muss auch dann Brennräume füllen, Reibung überwinden, Gänge und Drehzahl wechseln und Energie als Wärme verpuffen, wenn man kaum Gas gibt.

Mit Strom reicht ein Gang – und Spitzenleistung spielt kaum eine Rolle, wenn man nur wenig Gas gibt. Stärkere Verbrennungsmotoren verbrauchen immer mehr Sprit als schwächere, stärkere E-Motoren beziehen aber nur jenen Strom, der gerade benötigt wird. Grösseren Einfluss haben beim E-Auto andere Faktoren, etwa Aerodynamik und Aussentemperatur, Rollwiderstand und Effizienz der Rückgewinnung von Strom. Doch sowohl bei Verbrennern als auch bei E-Motoren gilt: Je öfter das Gaspedal durchgetreten wird, desto weniger weit kommt man.

Akku bestimmt Leistung

Ausserdem ist Power bei Elektrikern technisch einfacher und daher günstiger als bei Verbrennern. Kein Wunder, leisten heute schon Kompaktmodelle wie der Kia EV6 GT mit seinen bis zu 585 PS so viel wie vor wenigen Jahren noch absolute Spitzensportler à la Ferrari. Wieso haben dann nicht alle Stromer solch hohe Spitzenleistungen? Weil die schwierig auf die Strasse zu bringen sind – und ein E-Motor nur so viel kann wie sein Akku.

Ein Verbrenner speist 500 PS auch (kurz) aus einem Einliter-Tank. Ein 500-PS-Stromer aber braucht einen entsprechenden Akku. Ein Beispiel: Der bald startende Elektro-Gran-Turismo Folgore von Maserati hat drei E-Motoren an Bord, die zusammen theoretisch 1200 PS auf den Asphalt wuchten könnten. Beschränkt wird die Leistung jedoch von der T-förmig im Unterboden eingebauten Batterie, die dauerhaft eine Maximal-Leistung von «nur» 761 PS zulässt.

Ein stärkerer Akku kostet ausserdem Gewicht – und damit Reichweite. Und viel Geld, weshalb kleine und mittelgrosse E-Autos häufig dezent bleiben. Aber baut man eh dicke Akkus ein, um etwa mit fetten SUVs weit zu kommen, kann man das ohne grosse Reichweiten-Reue quasi nebenher für Power nutzen.

Leistung versüsst Preis

Der letzte Rest ist Marketing. Um Käuferinnen und Käufer zu locken, ist der «Tesla-Effekt» – Power bis zum Abwinken – so wichtig wie Reichweite. Zumindest in hohen Preisklassen und gerade in der Schweiz. Auch, um Kunden den vom Akku verursachten Mehrpreis zu versüssen. Und die PS-Stufen dienen auch der Differenzierung der Modellvarianten, obwohl der Akku teils derselbe bleibt.

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