Hüfthohe Steinmauern, hohe Hecken; das schmale Strässchen schlängelt sich durch die Wiesen. Englisches Idyll, als ob hinter der nächsten Biegung Harry Potters Zaubererschule Hogwarts auftauchen könnte. Tatsächlich – plötzlich ein schmiedeeisernes Tor. Doch dahinter ragt kein pompöses Schloss auf, sondern ein unscheinbarer Flachdach-Bau. In seinen Mauern: Renaults Formel-1-Hauptquartier. Willkommen in Enstone (GB)!
Eine grosse Historie
Das Werk schaut modern aus, ist aber quasi eine historische Stätte: Die Formel-1-Weltmeisterautos von Benetton (1994, 1995) und Renault (2005, 2006) wurden hier entwickelt und gebaut. Und bald soll hier die technische Grundlage für neue Renault-Titel gelegt werden. Die Marke steckte umgerechnet 56 Millionen Franken in die Modernisierung und den Ausbau des Entwicklungszentrums. Dringend nötige Investitionen, weiss Rob White, operativer Direktor: «Als wir das Team vor drei Jahren übernommen haben, war das Werk in einem desolaten Zustand.»
Turbulente jüngere Vergangenheit
Das hatte sich Renault allerdings selbst eingebrockt: Ende 2009 zogen sich die Franzosen nach einem beschämenden achten Rang in der Konstrukteurswertung als Werksteam zurück und verkauften das Team inklusive des modernen Werks an Genii Capital. Das schien sich auszuzahlen: Als Motorenlieferant knüpfte Renault an die Erfolge der 1990er-Jahre an (sechs Fahrer- und fünf Konstrukteurs-WM-Titel)und gewann mit Red Bull vier Weltmeisterschaften in Folge. Mit dem neuen Motorenreglement von 2014 verlor Renault aber den Anschluss an die Konkurrenten Mercedes und Ferrari. Red Bull war unzufrieden. Daher kehrte Renault 2016 als Werksteam zurück: Die Franzosen kauften ihr Team von Genii Capital zurück. Bloss hatte Genii in den sechs Jahren praktisch nichts ins Werk in Enstone investiert. Und Stillstand ist in der Formel 1 Rückschritt.
Massive Investitionen
Renault will und muss nun aufholen. In einem 5,6 Millionen Franken teuren Anbau bei konstant 21 Grad Celsius fräsen zwei neue Hochleistungs-CNC-Maschinen vollautomatisch die Werkzeuge für die Karbon-Bauteile des neuen Formel-1-Boliden. Ein Getriebebauteil entsteht hier in neun Stunden. Herzstück des Werks: der Windkanal mit 10'000 PS starkem Rotor. Er erhielt ein neues Rollband und eine komplett neue Software. In rund eintausend Messereihen werden hier Daten gesammelt, um Probleme mit der Aerodynamik des neuen Autos zu lösen. Dabei existierte dieses Auto noch gar nicht – ein Supercomputer mit 3000 Prozessoren hatte mögliche Schwachstellen vorher berechnet.
Der Simulator
Modelle bis maximal 60 Prozent der Originalgrösse können im Windkanal getestet werden; mehr ist vom F1-Reglement nicht erlaubt. Da die Nutzungsdauer des Windkanals ebenfalls beschränkt ist, entwickelt das Team vor allem im Simulator, dessen Einsatz noch nicht reglementiert ist. 15 Highend-Computer, fünf Projektoren sowie Grafikkarten aus der Game-Industrie bringen die F1-Strecken nach Enstone. Am Steuer sitzen meistens die Entwicklungsfahrer und erarbeiten Wochen im Voraus die Grundabstimmung für ein Rennen. Die selbst entwickelte Software ist so gut, dass Rob White überzeugt ist: «Was in unserem Simulator klappt, funktioniert auch auf der Rennstrecke!»
«Mission Control»
Eine der wichtigsten Änderungen war 2017 die Eröffnung des «Operations Room». Die 24 in vier Reihen angeordneten Computer-Arbeitsplätze erinnern an die Kommandozentrale der Nasa. Ingenieure aus Produktion, Rennstrategie, Aerodynamik und Informatik überwachen während der Rennen in Echtzeit unzählige Parameter der Rennwagen, live von der Rennstrecke. «Die Übertragung vom Auto an die Box dauert 0,005 Sekunden, nach hier dauert es eine Viertelsekunde», erklärt Rob White. Durch die höhere Rechenleistung und den direkten Zugriff auf die gesamte Team-Datenbank können die Ingenieure in Enstone aber mehr Daten in derselben Zeit verarbeiten wie an der Rennstrecke. Wie die Arbeitsteilung zwischen Enstone und Boxengasse ganz genau läuft, mag White uns allerdings nicht verraten.
Aufwärtstrend sichtbar
Die Investitionen ins britische Werk zahlen sich schon aus: In drei Jahren hat sich Renault vom Tabellenende weggekämpft und an die Spitze herangeschlichen. Dieses Jahr sind die Franzosen die vierte Kraft hinter den übermächtigen Drei – Mercedes, Ferrari und Red Bull. Bis in drei Jahren will Renault zu den Spitzenteams gehören und in Enstone wieder Weltmeisterautos bauen. «Die Verbesserungen in der Fabrik müssen sich jetzt auf der Rennstrecke zeigen», sagt White und verrät Renaults Erfolgsgeheimnis: «Wir sind nie zufrieden!»