Jeder neue Patient ist für Dr. Gundula Tutt ein spannender Fall. Denn unter den alten Lackschichten der historischen Karosserien verbergen sich oft interessante Geheimnisse, denen sie auf den Grund gehen will. Und so könnte das Büro der Diplom-Restauratorin auch in jedem Forensik-Krimi als Kulisse dienen. Auf einem schlichten Tisch steht ein Mikroskop, die Regale dahinter sind vollgepackt mit Reagenzgläsern. «Es sind fast 600», schmunzelt die Oldtimer-Restauratorin. Sie sind die Datenbank – und unerlässlich für die Arbeit der Frau mit den wachen Augen hinter den runden Brillengläsern. In den meisten Behältern befinden sich Lackreste alter Autos, aber auch Spuren von Polsterungen oder Reste von Lederbezügen.
Wer nach Gundula Tutts Arbeit ein wie neu lackiertes und blank poliertes Fahrzeug erwartet, wird enttäuscht. Man sieht auch danach den Zahn der Zeit. Vielmehr gehts bei ihrer Arbeit um Erhaltung und Konservierung der historischen Substanz. Dies erfordert viel Geschick, Erfahrung und Geduld. Das war schon während des Studiums so, als sie stundenlang Farbschichten alter Bilder entfernte, um den Gemälden auf den Grund zu gehen. «Es braucht eine gewisse Demut und Einfühlungsvermögen, weil man die Ideen des ursprünglichen Herstellers und Handwerkers annehmen und quasi in seine Intention eintauchen muss», erklärt die Restauratorin. Neben dieser empathischen Komponente sind aber auch handfeste wissenschaftliche und handwerkliche Fertigkeiten nötig. Mit der Infrarotspektroskopie, das die Wechselwirkung elektromagnetischer Strahlung aus dem infraroten Spektralbereich untersucht, wird der Farbcode des betagten Patienten entschlüsselt. Diese Methodik, die auch in der Kunstgeschichte bei der Restauration alter Gemälde angewendet wird, half Tutt etwa bei der Analyse von Farbproben des Egger-Lohner C2 Porsche, Baujahr 1898, der heute im Porsche-Museum in Stuttgart steht.
Um Oldtimer wieder in ihren Originalzustand zurück zu versetzen, braucht es auch intensive Untersuchungen des Lacks. Oft verbirgt sich die Originalfarbe unter mehreren Schichten und bisweilen stellt sich heraus, dass der angebliche Originallack nur eine Überlackierung darstellt. Um die ursprüngliche Schicht herauszufinden, helfen Lichtquellen. Die Fans der CSI-Serien kennen das Prozedere, wenn Ermittler die zu untersuchenden Flächen mit verschiedenfarbigen Lichtquellen beleuchten und mit den passenden Filtern die Farbübergänge sichtbar machen. Dann kommt das Mikroskop zum Einsatz, um anhand der Zellen die Holzart der Fahrzeugaufbauten zu identifizieren. «So konnte ich an einigen nie bearbeiteten Fahrzeugen nachweisen, dass im Karosseriebau früher beileibe nicht 'alles Esche' war», erklärt die findige Restauratorin. Mittlerweile sind Gundula Tutts Expertisen weltweit gefragt. Die Restauratorin ist Mitglied der Arbeitsgruppe der Fédération Internationale des Véhicules Anciens (FIVA), welche die Charta von Turin – eine Zusammenfassung von Leitsätzen für Nutzung, Unterhalt, Konservierung, Restaurierung und Reparatur von historischen Fahrzeugen – verfasst hat.
Nach der Lackanalyse folgt die eigentliche Arbeit; das Mischen der Farben. Dazu verwendet Gundula Tutt eine selbst entworfene Farbmischmaschine. Auf die Frage nach dem Geheimnis dieser Apparatur gibts als Antwort nur ein freundliches Lächeln und: «Sorry, Betriebsgeheimnis». Einen Lack zu konservieren ist deutlich aufwendiger, als die Farbe neu anzumischen. Damit die originale Substanz möglichst umfangreich erhalten bleibt, greift die Restauratorin zu kreativen Hilfsmitteln. Lackstücke werden mit Klebenadeln oder mit einem Bügeleisen wieder fixiert. Für diese diffizile Arbeit an jahrzehntealten Farbschichten ist neben Routine auch viel Geschick nötig. Ihre exakten Handgriffe erinnern an jene eines versierten Chirurgen. Dass aber ein alter Bugatti oder Alfa nicht antiseptisch ist, spürt Gundula Tutt oft genug am eigenen Leib. Mehr als einmal hat sie sich an scharfen Blechen an schwer erreichbaren Stellen schon verletzt.
Eines ihrer ersten Projekte war ein Bugatti T43, bei dem der Lack von der Zeit gezeichnet war, der Karosserie-Boden fehlte und die Innenausstattung beschädigt war. «Damals stand ich etwa sechs Wochen unter Hochspannung und habe nachts teilweise von der Arbeit am Auto geträumt», erzählt Gundula Tutt. Als sie verschiedene Sattler abklapperte, um die Innenausstattung mit Rosshaar und Stahlfedern, aber ohne Kleber und Klammern wieder in Schuss zu bringen, erntete sie verständnisloses Kopfschütteln. «Die schauten mich an, als wäre ich von Sinnen», lacht sie heute. Weiter brachte sie dann das Buch «Polsterlehrgang» aus dem Jahr 1950. Anhand dieser Anleitung brachte Gundula Tutt das Interieur wieder auf Vordermann. Selbst das Leder färbte sie selbst und nutzte dazu ein Rezept aus den 1930er-Jahren. Das Lackieren kleiner Flächen erledigte Tutt mit einer Airbrush-Anlage, für grössere «Baustellen» fand sie einen Lackierer, der das Handwerk mit den alten Farben nach ihren Vorgaben hinbekam. Und so verfügt Gundula Tutt heute über ein funktionierendes Netzwerk, das ihr einige Aufgaben abnimmt.