Die Zukunft schaut aus wie eine riesige Sommerparty. Rund um Foodtrucks wird an Tacos und Rippchen geknabbert, zu den Funk-Rhythmen einer Marching Band fussgewippt und auf seltsamen Fahrzeugen herumgerollt. Menschen sonnen sich auf Bierbänken und mitten im Gewimmel erhebt sich ein Zirkuszelt. Kindergeburtstag XXL? Nein, sozusagen das «WEF der Mobilität».
Die Geschichte
Vor 20 Jahren lud der Pneuhersteller Michelin Experten aus Wirtschaft und Wissenschaft an die erste Challenge Bibendum, benannt nach Michelins pummeligem Maskottchen. Energieverbrauch, Lärm, Emissionsausstoss: Wer sie senken wollte, war willkommen; bis 2014 insgesamt zwölf Mal. «Aber dann wurde es Zeit für einen Konzeptwechsel», sagt Nicolas Beaumont von Michelin. Mit der rasanten Digitalisierung sei absehbar, dass es bei der Mobilität von morgen nicht mehr nur um effiziente Antriebe gehe. Und schon gar nicht nur um Pneus.
Die Konferenz 2018
Zum zweiten Mal nach 2017 organisierte Beaumont dieses Jahr den Nachfolge-Event «Movin'on by Michelin». Keine Leistungsschau der Spritspartechnik, sondern drei Tage Gedankenaustausch im Zirkuszelt. Im Jahr 2050 werden zwei Drittel der Weltbevölkerung laut Prognosen der Vereinten Nationen in Städten leben. Welche Mobilitätsbedürfnisse werden sie verspüren? Wie verändert sich Mobilität mit der Digitalisierung? Und wie lässt sie sich neu begreifen als Teil eines Gesamtkonzepts von Urbanität? Darüber diskutierten über 4000 Teilnehmer. Nicht übliche Ankündigungsweltmeister á la Tesla-Chef Elon Musk. Sondern Experten und Entscheider, die mehr zu präsentieren hatten als nur schnittige Elektroautos. Vom Leiter Infrastruktur der City of Los Angeles bis zum CEO der französischen Staatsbahnen SNCF. Und mit AirspaceX, Hyperloop und VPLP Design stellten sich auch Unternehmen vor, die völlig quer zu gewöhnlichen Mobilitätskonzepten denken.
Weit voraus
In der Schweiz und ganz Europa wird noch über Sinn und Unsinn von Elektromobilität und autonomen Fahrzeugen diskutiert – in Montreal ist beides kein Thema mehr, sondern längst gesetzt. Stattdessen gehts um Verknüpfung der Verkehrsträger, um geteilte Mobilität und Mobilitätsservices. Reibungslos sollen wir künftig zwischen autonomen, geteilten Autos und ÖV hin- und herwechseln können, um Zeit und Energie zu sparen. Apps werden die Routen ausarbeiten, Anschlüsse herstellen, die Bezahlung regeln und uns auf der letzten Meile – sprich: zu Fuss – zu unserem Ziel leiten. Der Besitz eines eigenen Autos für den Alltag werde zum Auslaufmodell. «Wir müssen Menschen bewegen, nicht Autos», sagt Sampo Hietanen, Gründer des Start-ups Mobility As A Service.
Umdenken anregen
Nie gehört? So gehts einem mit den meisten der jungen Unternehmen, die in Montreal Apps zur Parkplatzsuche oder Technik zum Freigeben des eigenen Autos für andere präsentieren. Gut möglich, dass es sie im kommenden Jahr schon nicht mehr gibt. Entscheidend ist für Nicolas Beaumont der Prozess des Umdenkens, den sie mit ins Rollen bringen. Michelin und Partner wie BMW, Bombardier oder DHL finanzieren «Movin'on», das daher nicht einmal kostendeckend sein muss, aber sehen die Konferenz trotzdem nicht als Werbeveranstaltung. «Dies ist kein Marketing-Event. Wir sind auf Teilnehmer aus, die nicht bloss ein Produkt vorstellen, sondern Wissen und Erfahrungen teilen wollen», sagt Beaumont.
Vorbehalte
Grenzen der schönen neuen Mobilität scheinen immer dann durch, wenn es um digitale Sicherheit geht. Hinter den Apps und Services steht «Big Data», also die Verarbeitung all jener Daten, die wir ständig mit unseren Autos, Smartphones oder Kreditkarten den Unternehmen quasi kostenlos zur Verfügung stellen, mit Hilfe von künstlicher Intelligenz. Wenn Kam He von der US-Dependance des China-Internetkonzerns Alibaba vorführt, wie längst in chinesischen Megacities Buslinien entsprechend der Nachfrage per Mausklick umgeleitet werden oder der Verkehrsfluss über in Echtzeit gesammelte Daten gesteuert wird, kann einem schon blümerant werden: Was könnte eine Terrorzelle anrichten, hätte sie Zugang zu dieser Schnittstelle?
«Wir müssen Vertrauen schaffen bei den Menschen. Sonst wird sich niemand neuen Mobilitätsservices anvertrauen», sagt die Psychologin Angela Weltman, die in einem Workshop für das Problem sensibilisiert. «Aber vielleicht wird der Nutzen derart überwiegen, dass Kunden das digitale Risiko auf sich nehmen.» Kaum glaubhaft, dass es so einfach wird mit der neuen Mobilität...