Exklusive Testfahrt auf der Honda RC213V-S
Das Statement

Was in der Autowelt ein Formel-1-Bolide mit Strassenzulassung wäre, ist bei den Motorrädern die Honda RC213V-S. Für SonntagsBlick durfte «TÖFF»-Chefredaktor Daniele Carrozza als einziger Schweizer den 190'000 Franken teuren Racer testen.
Publiziert: 10.10.2015 um 23:48 Uhr
|
Aktualisiert: 05.10.2018 um 02:57 Uhr
1/24
Von Daniele Carrozza (Text) und Milagro (Fotos)

Es ist wie Weihnachten, Geburtstag und der erste Beischlaf an einem Tag: Als einziger Schweizer Journalist darf ich heute der Honda RC213V-S in Valencia die Sporen geben. Das Besondere an diesem Bike? Zum einen sicherlich der Kaufpreis von sage und schreibe 190'000 Franken. Und dann die Tatsache, dass der Spanier Marc Márquez in den Jahren 2013 und 2014 mit genau diesem Gerät MotoGP-Weltmeister wurde. Oder mit fast genau diesem Gerät: Denn während Márquez’ Werksrenner RC213V galaktische 240 PS abdrückt und gerade mal 158 Kilo wiegt, fahre ich den für die Strasse zugelassenen Serien-Ableger, der technisch zu 80 Prozten dem MotoGP-Racer entsprechen soll.

Unterschiede zum «Original» sind neben dem Scheinwerfer, den Rückspiegeln und dem Kennzeichenhalter im Wesentlichen ein konventionelles anstelle des komplexen Seamless-Getriebes sowie eine klassische statt pneumatische Ventilsteuerung am 90-Grad-V4-Antrieb mit 999 ccm Hubraum. Unter dem Strich sind das bei der «S» dann 159 bzw. 215 PS (mit dem im Kaufpreis inbegriffenen Racing-Kit) und 160 Kilo Trockengewicht.

Technischer Imperativ
Diese Honda vereint technisch das Beste und Fortschrittlichste, was es derzeit für Geld zu kaufen gibt – sowohl punkto Werkstoffe (Titan, Karbon und Alu von vorn bis hinten) als auch konstruktiv: «Baut das am einfachsten zu fahrende Bike», lautete seinerzeit der Auftrag an die hauseigene Rennabteilung HRC. Denn je einfacher sich ein Töff fahren lässt, desto schneller ist man damit. Und so unterwirft sich auch bei der RC213V-S alles genau dieser Maxime.

Der konstruktive Schlüssel zum perfekten Handling liegt in der konsequenten Zentralisierung der Massen um den Schwerpunkt sowie in bedingungslosem Leichtbau. Und hat man den Aufwand mal erkannt, den Honda betrieben hat, um den Schwerpunkt genau da zu platzieren, wo er sein soll, bekommt plötzlich auch der Kaufpreis seine Berechtigung. Ein Beispiel: Der Tank verläuft hinter dem Motor unter den Fahrersitz. Die Fertigung eines dermassen komplex geformten Kleinserien-Bauteils ist industriell nicht zu bewerkstelligen, weshalb das Alu-Behältnis von Hand geschweisst werden muss. Unter dem Strich resultiert bei der RC213V-S eine tiefere Massenträgheit als bei einer handelsüblichen 600er.

Magistrales Handling
Mein erster von insgesamt vier Turns steht an. Zwei auf dem in den HRC-Farben lackierten Strassen- und zwei auf dem mattschwarzen Kit-Modell. Booh-booh-booh, flutschen die Gänge via Quickshifter praktisch nahtlos bereits in der Boxengasse rein, der Puls steigt – es geht los!

Die 159 PS sind überschaubar, auf den Zwischengeraden dürfte es ruhig etwas mehr sein. Aber wir lassen es in der «Strassenkonfiguration» vorerst ohnehin gemächlich angehen – im Riding-Mode 3. Traktions- und Motorbremskontrolle sowie Leistungsabgabe sind hier noch stärker auf Sicherheit statt schnelle Rundenzeiten getrimmt. Und in den Kurven? Zarter Lenkimpuls und – zack – wirft sich die RC213V-S an den Scheitel, wo sie die angesetzte Rollrate wie vom Autopiloten geführt mit akribischer Präzision hält.

Bereits nach dem ersten Turn bin ich überzeugt: Noch nie bin ich auf einem dermassen spielend durch Kurven aller erdenklichen Radien zu fahrenden Bike gesessen. Gleichzeitig offenbart die RC213V-S eine Präzision, eine Stabilität und letztendlich eine Effizienz, die ohne Zweifel ihresgleichen sucht. Noch eine Erkenntnis zu den 159 PS: Auf der Strasse braucht bei diesem flinken Leichtgewicht kein Mensch mehr!

Turn zwei – ich aktiviere den schärferen Riding-Mode 2 und lasse es auf Anhieb krachen. Fantastisch, wie sanft der V4 Gas annimmt. Die Power konzentriert sich aber klar in der oberen Drehzahlhälfte ab 8000/min, und nicht selten segle ich zu Beginn der Session aufgrund der beflügelnden Drehfreude in den Begrenzer. Also umdenken und etwas früher Schalten. In der Hitze von Valencia beginnen die RS10-Bridgestone-Reifen langsam aber sicher leicht zu schmieren. Alles kein Problem, denn mit dieser Elektronik und dem genialen Feedback ist es ein Leichtes, die Situation stets im Griff zu behalten. Dennoch beginnt sich bei mir der Wunsch nach mehr Traktion und einer knackigeren Bremsperformance zu konkretisieren. Höchste Zeit für das Kit-Bike also!

Die Offenbarung
Turns drei und vier – Kit-Bike, Slicks, volle Power! Ich drehe am Gas und – wow! – dieses Ding brüllt und peitscht exakt wie die MotoGP-Maschine! Genauso ist dieses Bike gedacht – in genau dieser Konfiguration wurde es geboren. Auf der Bremse fühlt sich das mit Racing-Belägen bestückte System um Welten knackiger an. Und das Einlenkverhalten ist jetzt noch eine Portion rassiger.

215 PS – da geht richtig was, und am Kurvenausgang beginnt die Honda neckisch die Front zu lupfen. Unglaublich, wie viel Leistung jetzt ans Hinterrad gepfeffert wird. Ich mache es wie Márquez, richte die RC213V-S so schnell wie möglich auf und gebe an den Drosselklappen den vollen Querschnitt frei. Es brüllt, reisst infernalisch, und dennoch bleibe ich stets Herr der Lage. Bis die karierte Flagge fällt.

Fazit: Die RC213V-S ist ein Meisterwerk der Ingenieursbaukunst, das auf eindrückliche Art den Einfluss technischer Genialität auf die Fahrdynamik aufzeigt. Diese Honda ist – und zwar mit Abstand – in jeglicher Hinsicht das Beste, was ich je auf einer Rennstrecke bewegen durfte.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?