Eigentlich sollten wir jetzt an einem Tisch sitzen. Aber die Absage des Genfer Salons zwingt uns zu diesem Telefoninterview. War die Absage richtig?
Ola Källenius: Wir unterstützen die Entscheidung der Schweizer Behörden – die Gesundheit der Messeteilnehmer und des Publikums geht vor. Aber wir konnten kurzfristig umstellen: Nach der Absage fahren wir unser Programm virtuell und digital. Wir konnten 2019 schon üben, als wir den neuen GLA erstmals in einer rein digitalen Weltpremiere enthüllt haben.
Das Neue tun, aber das Alte nicht lassen?
Genau. Ein Beispiel: Mit der IAA wurde die für die deutsche Industrie wichtigste Automesse neu ausgeschrieben – Presse ja, Geschäftskunden ja, aber wir öffnen sie zu einem Open Space, der die ganze Stadt integriert und das Thema Mobilität greifbarer macht.
Müssen sich die Messen ändern, um dem Kunden Carsharing oder Ridehailing zu erklären, bei denen man sich ein Auto teilt oder jemanden mitnimmt?
Mobilitätsservices ergänzen die selbstbestimmte individuelle Mobilität, wie wir sie heute kennen. Gerade Dienstleistungen wie das Ridehailing, das wir unter dem Label Freenow in einigen Ländern anbieten, haben grossen Zulauf in urbanen Zentren. Kommt die nächste IAA als Open Space, dann werden wir auch demonstrieren, was wir auf der Dienstleistungsseite im Köcher haben.
Sind wir schon bereit für diese Formen der Mobilität?
Es hängt vom Anwendungsfall ab. Kunden suchen die bequemste Mobilitätslösung. Wohne ich in New York, dann komme ich unter der Woche problemlos mit Mobilitätsservices von A nach B. Aber fürs Wochenende möchte ich mir vielleicht ein Auto via Mercedes-Benz Rent leihen. Projizieren wir es auf Deutschland: Zwei Drittel der Menschen leben im ländlichen Raum. Dort sichert das Auto selbstbestimmte Mobilität. Hat man Kinder oder muss Lasten transportieren, ist das eigene Auto überlegen.
Projizieren wir es auf die Schweiz: Wir haben den wohl besten ÖV – und viele Städte wollen das Auto völlig verbannen. Was setzen Sie dem entgegen?
Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger im Blick haben. Sie brauchen selbstbestimmte Mobilität, möglichst emissionsfrei. Das ist der Grund, warum wir massiv in die Elektrifizierung investieren und die Brennstoffzelle für Nutzfahrzeuge einführen. Die Schweiz ist beim ÖV top. Dennoch reicht er nicht, um die Mobilitätsbedürfnisse aller zu erfüllen.
Aber die Städte sind heute schon verstopft.
Autos werden zu Smartphones auf Rädern. Durch die Vernetzung werden wir künftig Staus vermeiden und flüssigeren Verkehr erreichen können. Mobilität wird emissionsfrei, vernetzt und bezieht den ÖV ein. Es ist ein intelligentes Sowohl-als-auch.
Stichwort Vernetzung: Wie können Sie bei einem Modellzyklus von sieben Jahren mit der IT-Branche Schritt halten?
Die wichtigste Entscheidung haben wir vor ein paar Jahren getroffen: Hard- und Softwarearchitektur müssen grundsätzlich getrennt werden, damit sich die Software über die Lebensdauer des Autos anpassen lässt, zum Beispiel per Update über das Mobilfunknetz. Vor zwei Jahren haben wir das teils schon eingeführt und werden es mit der nächsten S-Klasse massiv ausbauen. Und wir entwickeln unser eigenes Betriebssystem, das wir in allen Baureihen einsetzen können.
Also keine Kooperation mehr mit Google und Co.?
Vieles, was früher Tech-Unternehmen zugeliefert haben, machen wir nun selbst. Kooperationen werden wir natürlich auch fortführen. Aber viel Know-how wandert ins Unternehmen. Wir integrieren nicht nur Software wie bisher, sondern entwickeln sie gleich selber. Das ist für uns ein Paradigmenwechsel.
Das heisst: Einen Mercedes erkennt man künftig an der Software?
Wir achten künftig und auch bei der Elektromobilität auf unsere typischen Mercedes-Tugenden im Fahrzeug. Aber in der Software eröffnet sich eine neue Welt für Premium und Luxus. Der Schlüssel ist Intuition. Unser vor zwei Jahren präsentiertes Infotainment-System MBUX entwickeln wir weiter: Es muss so einfach sein, dass man es auf Anhieb verstehen und bedienen kann. Und ein Mercedes kümmert sich um seinen Fahrer. Das geht so weit, dass das Auto erkennt, wenn man lange unterwegs ist, und dann zum Beispiel Massagefunktion und Beduftung zuschaltet und Pausen empfiehlt.
Sie haben den Abbau von bis zu 15'000 Stellen angekündigt. Was ist passiert?
Diese Zahl haben wir nie genannt. Richtig ist, dass wir bis 2022 Personalkosten von 1,4 Milliarden Euro einsparen wollen. Bei Absatz und Preis-Premium sind wird weiterhin vorne. Aber die Transformation der Autoindustrie ist kapitalintensiv. Deshalb haben wir massiv in unsere Kostenstrukturen eingegriffen und erhöhen die Effizienz. Wir müssen das tun, damit wir auf Höchstniveau in neue Technologien investieren können. Leider steht dann oft das in den Schlagzeilen – und nicht die Verkaufsrekorde. Kosten reduzieren und Geld sinnvoll investieren – das läuft parallel. Die Hauptfelder, worauf wir uns fokussieren, sind vor allem Elektrifizierung und Digitalisierung.
Start-up-Spirit ist in der Autoindustrie «en vogue». Haben Sie noch Spielgeld, um Neues auszuprobieren? Und zu verwerfen, wenn es nicht funktioniert?
Technologie und Innovation sind das A und O. Trotz Sparanstrengungen investieren wir. Wir können auch kreativ sein, wenn wir einen spitzen Bleistift führen. Aber nicht ohne Sinn und Verstand: Also, wofür ist der Kunde bereit zu zahlen? Was gibt es für Erlöspotenziale? Das sind die Fragen vorab.
Wie wichtig ist das autonome Fahren?
Die Fahrassistenzsysteme, die wir bereits vor über 20 Jahren erfunden haben, entwickeln wir kontinuierlich weiter. Wir sind jetzt auf einer Art Level 2 plus und entwickeln in Richtung Level 3. Aber beim vollautonomen Fahren – Level 5 – haben wir uns für einen Business Case entschieden, bei dem wir zuerst Erlöse erzielen können: den LKW-Verkehr zwischen Knotenpunkten. Wir ziehen den Schwerverkehr vor, danach wird es mit dem PW weitergehen. Ein System von selbstfahrenden Robo-Taxis sehen wir eher später.
Wie spät – 2030?
Da möchte ich jetzt keine Zahl nennen. Die Entwicklung läuft, wir werden sehen.
Der Technikwandel ist eine schlechte Nachricht für klassische Autoingenieure. Wie gehen Sie damit um?
Wir setzen auf Weiterbildung. Jetzt schon wandern schrittweise Kolleginnen und Kollegen aus der Verbrenner- in die Elektroentwicklung. Auch bei der Digitalisierung werden wir unser Angebot ausweiten. Aber wir müssen gerade im Softwarebereich neue Talente einstellen. Wir bauen Digital Hubs auf – in Berlin, in Seattle für Cloud Computing; wird sind in Peking, Bangalore, im Silicon Valley, in Tel Aviv.
Finden Sie die Talente? Auch Ihre Mitbewerber suchen.
Das Auto fasziniert als Produkt. Viele junge Talente finden Mercedes genauso spannend wie wir selbst.
Wird Mercedes in diesem Jahr den verschärften CO2-Grenzwert erreichen?
Die anstehenden CO2-Ziele im kommenden Jahr sind ohne Frage ambitioniert. Wir tun alles, um den CO2-Grenzwert zu erreichen. Unser Massnahmenpaket steht: Alleine in diesem Jahr haben wir uns eine mehr als 20-prozentige CO2-Reduktion in der EU-Flotte zum Ziel gesetzt, indem wir den Anteil elektrifizierter Verbrenner mit 48V verdoppeln und den Anteil an Plug-in-Hybriden und rein batterieelektrischen Fahrzeugen am Gesamtabsatz vervierfachen.
Wann wird der letzte Ingenieur für Verbrennungsmotoren sein Büro zusperren?
Den Verbrennungsmotor wird es auch nach 2030 noch geben. Aber das Angebot wird vereinfacht, während parallel die Elektrifizierung zunimmt. Auch 2030 wird noch ein erheblicher Teil unserer Modelle über moderne, emissionsarme und verbrauchsoptimierte Verbrennungsmotoren verfügen, die mindestens mit 48-Volt-Hybridsystemen elektrifiziert sein werden.
Die Kundschaft Ihrer Sporttochter AMG muss sich nicht um den Achtzylinder sorgen?
Die AMG-Klientel muss sich nicht um die Fahrleistungen sorgen. Wir sind 2019 mit Hybridantrieb Formel-1-Weltmeister geworden – und wir werden bei AMG über alle Baureihen hinweg hybridisieren. Erste Produkte kommen Ende 2020. Es wird auch rein elektrische Modelle von AMG geben. Wichtig ist das Versprechen von Leistung. Das werden wir auch mit elektrifizierten Antrieben halten.
Smart bietet nur noch Elektroantriebe an. Braucht es die Marke noch, wenn auch Mercedes künftig auf Stromer setzt?
Smart ist eine sympathische, urbane Marke. Aber das reicht nicht. Wir brauchen Profitabilität. Nur wenn wir die Kosten bei Entwicklung und Produktion drastisch senken, können wir in diesem Segment weitermachen. Mit Geely haben wir einen Partner in China und werden die Produktion in ein neu gegründetes Joint Venture dorthin verlegen. 2022 kommen die ersten Produkte. Ich bin sicher, dass wir diese dann profitabel realisieren können.
Planen Sie den Online-Verkauf von Autos unter Umgehung der Händler?
Wir sind schon in mehreren Märkten online unterwegs. 2025 wollen wir 25 Prozent unserer Verkäufe online abwickeln. Da werden sich auch die Geschäftsmodelle der Händler ändern. Sie müssen bereit sein, neu zu denken und die Digitalisierung als Chance zu nutzen.
Sehen die Händler die Notwendigkeit?
Nach wie vor ist das Automobilgeschäft ein Wachstumsgeschäft, weltweit. Der Wunsch nach und Bedarf an Mobilität nehmen zu. Digitalisierung kann unsere Kosten deutlich senken. Das haben die meisten Händler verstanden und sind progressiv unterwegs. Klar, es gibt auch Ängste, weil das bestehende Geschäftsmodell lange gut funktioniert hat.
Was wird nun aus den analogen Automessen, wenn alles digital wird?
Messen sind und bleiben wichtig. Wir schauen uns genau an, auf welcher Plattform wir welche Neuigkeiten verkünden wollen. Ein Beispiel: Die CES in Las Vegas ist von einer Tech-Messe zur Tech- und Automesse geworden. Wir präsentieren dort längst auch neue Automodelle. Wir werden uns auch in Genf wiedersehen. Wir kommen zurück.
Ola Källenius (50) wurde in Västervik (Schweden) geboren. Von 1989 bis 1993 studierte er unter anderem an der Universität St. Gallen Finanzwirtschaft und internationales Management. Källenius ist ein Daimler-Urgestein: Seine gesamte Berufslaufbahn ab 1993 verbrachte er im Stuttgarter Konzern unter anderem in Positionen in den USA, Grossbritannien oder als AMG-Chef im deutschen Affalterbach. Nach Vorstandspositionen für Vertrieb oder Forschung und Entwicklung wurde er im Mai 2019 als erster Nicht-Ingenieur zum Daimler-CEO berufen. Källenius ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Stuttgart.
Ola Källenius (50) wurde in Västervik (Schweden) geboren. Von 1989 bis 1993 studierte er unter anderem an der Universität St. Gallen Finanzwirtschaft und internationales Management. Källenius ist ein Daimler-Urgestein: Seine gesamte Berufslaufbahn ab 1993 verbrachte er im Stuttgarter Konzern unter anderem in Positionen in den USA, Grossbritannien oder als AMG-Chef im deutschen Affalterbach. Nach Vorstandspositionen für Vertrieb oder Forschung und Entwicklung wurde er im Mai 2019 als erster Nicht-Ingenieur zum Daimler-CEO berufen. Källenius ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Stuttgart.