Die Russen machen bei der Invasion in die Ukraine auch vor Kindern nicht Halt. Seit Ausbruch des Krieges sind bisher mindestens 329 Kinder getötet und 489 verletzt worden. Mindestens 5,2 Millionen ukrainische Kinder brauchen laut Unicef humanitäre Hilfe.
Kurz nach Beginn der Invasion hat das Schweizer Hilfswerk Terre des Hommes die Arbeit in der Ukraine und angrenzenden Ländern aufgenommen. Hier spannt es mit einheimischen Personen zusammen, die auf die Betreuung von Kindern spezialisiert sind. Zwei von ihnen, die Kinderschutzbeauftragten Rehina Chulinina (23) und Yana Smelianska (36), erzählten Blick am Rande einer Pressekonferenz in Lugano über ihre Erlebnisse.
Ihr gemeinsames Fazit: Nebst all den Tragödien, die sie täglich erleben, gibt es immer wieder Geschichten, die Hoffnung machen.
Bub mit Überlebens-Rucksack
Rehina Chulinina bietet in Iwano-Frankiwsk, einer Stadt im Westen des Landes, Aktivitäten für Kinder an. «Vor kurzem kam ein kleiner Bub mit einem Rucksack voll mit Lebensmitteln, Wasser, Kleidern und Überlebensausrüstung», erzählt sie. Er hatte sehr schwer zu schleppen und sagte nur: «Man muss immer bereit sein, man weiss nie, was in einer Minute passiert.»
Während der gemeinsamen Spiele wurde der Kleine immer gelöster. Am Schluss öffnete er den Rucksack sogar und verteilte mit einem Lächeln im Gesicht Essen an seine neuen Freunde. «Oft braucht es nicht viel, um das verlorene Vertrauen wieder herzustellen», meint Rehina Chulinina, die selber alles verloren hat, als sie aus dem zerbombten Mariupol floh.
Autist schwieg wochenlang
Ihre Kollegin Yana Smelianska arbeitet in einem Flüchtlingszentrum in der moldawischen Hauptstadt Chisinau, weil sie aus Odessa fliehen musste. Ihr hat ein vierjähriger Bub Eindruck gemacht, der Autist ist. «Der Bub, der mit seiner Mutter und zwei Geschwistern ankam, weinte drei Tage lang und sprach mit niemandem», erzählt Smelianska. Sein Vater war von den Invasoren gefangen genommen, gefoltert und deportiert worden.
Mit der Hilfe von Ärzten gelang es den Betreuern nach und nach, Vertrauen aufzubauen. Schliesslich begann der Kleine mit Knetmasse zu spielen und auch einige Sätze zu sprechen. Der Höhepunkt für alle war, als er zum ersten Mal seit Wochen ein Lächeln aufsetzte und sogar Leute umarmte.
«Viele Kinder sind durch den Krieg traumatisiert», sagt Rehina Chulinina. «Wenn sie die lauten Bomben hören, schlagen sie schützend ihre Hände über dem Kopf zusammen.»
Zu den Kindern ehrlich sein
Es sei keine einfache Sache, den Kindern zu erklären, was die Explosionen, die zerstörten Häuser und die vielen Toten bedeuteten. «Wichtig ist, dass man zu den Kindern ehrlich ist», sagt Chulinina. «Man muss ihnen zeigen, dass man ihnen hilft und sie an einen sicheren Ort bringt, wo sie keine Angst haben müssen. Sonst weinen sie und fühlen sich unsicher.»
Auch der Umgang mit Flüchtlingskindern in der Schweiz sei eine Herausforderung. «Das Schlüsselwort ist Inklusion, die hier in der Schweiz gut funktioniert», sagt Rehina Chulinina. Im Unterricht könnten die Lehrer zum Beispiel lehren, wie man auf Ukrainisch «Guten Tag» sagt, denn die Sprachbarriere sei gross. Wichtig sei es zu verstehen, dass die Kinder das Schlimmste erlebt hätten. «Sie sind oft müde und unkonzentriert, weil sie Albträume und Schlafprobleme haben.»
Im Hinblick auf die Ukraine-Konferenz in Lugano, die nächste Woche stattfindet, sagt Barbara Hintermann (60), Generaldirektorin von Terre des Hommes: «Indem wir an der Seite der Kinder stehen und in ihrem besten Interesse handeln, können wir Verbündete sein, um die zerbrochenen Fragmente ihres Lebens zusammenzusetzen und die Hoffnung für die nächste Generation wiederherzustellen.»