Zeichen der Alterung verkannt
Das menschliche Drama des Joe Biden

Erst noch unscheinbar, wurde in den vergangenen Wochen immer deutlicher, dass Joe Biden schlicht nicht mehr die Kraft hat, bis zum Wahltag gegen Herausforderer Donald Trump durchzuhalten. Die menschliche Alterung durchkreuzt Bidens Hoffnung auf eine zweite Amtszeit.
Publiziert: 22.07.2024 um 00:10 Uhr
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Aktualisiert: 22.07.2024 um 11:05 Uhr
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Unfreiwilliger Abgang: Der Druck auf US-Präsident Joe Biden, sich aus dem Präsidentschaftswahlkampf zurückzuziehen, stieg unaufhörlich.
Foto: Keystone
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Daniel KestenholzRedaktor Nachtdienst

Was für einen Unterschied ein paar Wochen, ja Tage machen. Eben lag US-Präsident Joe Biden (81) bei sämtlichen Umfragen noch vor Herausforderer Donald Trump (78). Das demokratische Lager war absolut siegessicher für die Wahlen am 5. November.

Trump hatte sich gegen eine Vielzahl von Gerichtsverfahren zu verantworten, wurde in einem Kriminalverfahren verurteilt und sollte am 11. Juli seine Haftstrafe erfahren. In einem überraschenden Urteil befand der konservative Flügel des Obersten Gerichtshofs am 1. Juli, dass Präsidenten absolute Immunität für «Kernaufgaben» des Präsidenten geniessen. Dann das Attentat auf Trump. Der Ex-Präsident scheint unaufhaltbar, wird von Anhängern schon fast messianisch verehrt.

Die Demokraten haben nicht damit gerechnet, dass Trump auf freiem Fuss bleibt. Doch Biden war auch nicht mehr der gleiche Mann wie noch vor vier Jahren, als er Trump bei TV-Duellen die Stirn bot. Die CNN-Debatte gegen Trump am 27. Juni sollte sich als der Dolchstoss für Biden erweisen.

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Selbst Lesen vom Teleprompter wurde schwierig

Die ganze Welt sah, was alle längst wussten oder wenigstens ahnten. Doch mit der Autorität der Supermacht der Welt hatten das Weisse Haus und der innerste Biden-Zirkel konstant beteuert, Biden sei fit. Aussetzer oder Versprecher des US-Präsidenten seien aus dem Kontext gerissen. Selbst von Deepfakes war die Rede.

In Wahrheit spielte sich auf der Weltbühne ein menschliches Drama ab, das alle Menschen befallen kann, unabhängig von Rang und Reichtum und Namen: Altersschwäche, Vergesslichkeit, kognitive Ausfälle. Auch Bilder zeigten einen oftmals verwirrten Mann, auch mit Anzeichen von Wut und Ernüchterung.

Der mächtigste Mann der Welt war in diesen Tagen nicht einmal mehr fähig, korrekt vom Teleprompter abzulesen. Letzte Woche kündigte Biden versehentlich eine maximale Mietpreiserhöhung von «55 Dollar» an – er las die «5%» falsch vom Teleprompter ab. Ähnliche Aussetzer vom schwächelnden mächtigsten Mann der Welt waren schon nicht mehr zu zählen.

Druck der Familie

Grösste Mühe schien das familiäre Umfeld mit Bidens Krise zu bekunden. First Lady Jill Biden war nach der fatalen TV-Debatte vor laufender Kamera der peinliche Fauxpas unterlaufen, ihren Joe wie ein Kleinkind zu behandeln. Er habe alle Fragen beantwortet, lobte sie ihren Mann.

In den letzten Krisentreffen im Weissen Haus begann auch Bidens Sohn Hunter (54) eine Art Fürsprecherrolle für seinen Vater einzunehmen. Hunter war Medienberichten zufolge allpräsent – der Biden-Sohn, der vorab für Sex, Drogen und verplemperte Millionen bekannt ist und sich in diesen letzten Tagen als wichtige Stütze für den Vater erwies.

Viel war in US-Medien auch die Rede davon, dass Familie und innerster Biden-Zirkel an ihren Privilegien hängen.

Setzte sich über Partei und Nation

In seiner Verzichtserklärung ging Biden mit keinem Wort auf die Tatsachen ein, die jetzt zu seinem Fall führten. Realitätsfremd hatte er bislang auch Zweifel von Parteischwergewichten zurückgewiesen. Am Schluss muss ihm offen gedroht worden sein.

Er werde «im Laufe dieser Woche vor der Nation ausführlicher über meine Entscheidung sprechen», so Biden in der Erklärung. Er wirkte zuweilen noch vif und rüstig, doch Biden erfuhr ganz einfach das unaufhaltbare Schicksal des Menschseins: Altern.

Für den Menschen Biden ists ein Drama. Ein Drama, das den mächtigsten Menschen der Welt unvorhersehbar und erratisch machte. Geschichtsbücher werden auf einen Mann zurückblicken, der sich in seiner wachsenden Verzweiflung über die Partei und Nation setzte.

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