«Welcome to Munich» steht in bunten Buchstaben auf einem Plakat, das am Münchner Hauptbahnhof hängt. Mit Applaus heissen unzählige Helfer die Flüchtlinge willkommen, die in diesen Tagen den Bahnhof im Süden Bayerns erreichen. 20'000 Menschen waren es vergangenes Wochenende – 11'000 weitere Personen sollen heute folgen.
Die Solidarität mit den Ankommenden ist enorm. Freiwillige Helfer decken die Asylsuchenden mit gespendeter Kleidung, Decken und Lebensmitteln ein, verteilen Kaffee und Plüschtiere. Auf Facebook organisieren sich Menschen, um Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf zu vermitteln und Spendenaktionen zu bewerben. Bei den Hilfswerken bestehen Wartelisten für Helfer-Jobs, die Stadt München teilt mit, man könne derzeit keine weiteren Sachspenden entgegennehmen, bevor all die eingegangenen Güter sortiert seien.
Die überwältigende Hilfsbereitschaft sorgt international für Schlagzeilen. Sie steht im Kontrast zu Berichten über Anschläge auf Asylsuchende und ihre Unterkünfte im Land, die in den vergangenen Wochen die Berichterstattung über die Situation der Flüchtlinge in Deutschland dominierten. War es bislang der Fremdenhass, prägt seit der Ankunft von Tausenden Flüchtlingen im Land die Willkommenskultur der deutschen Bevölkerung die öffentliche Wahrnehmung. Dies spiegelt sich auch im Netz: Nirgends sonst in Europa ist der Hashtag «#RefugeesWelcome» so beliebt wie in Deutschland, wie ein Blick auf eine Twitter-Statistik zeigt (siehe oben).
«Kollektives schlechtes Gewissen» in Deutschland
Doch weshalb ist es gerade Deutschland, das sich Flüchtlingen gegenüber so offen zeigt wie kein anderer Staat Europas? Das Land, in dem bereits jetzt europaweit am meisten Asylgesuche gestellt werden? Laut Tim Guldimann, der bis vor wenigen Monaten als Schweizer Botschafter in Berlin amtete und nun für die SP als Nationalrat kandidiert, führt die Suche nach Gründen unweigerlich in die Vergangenheit. «In Deutschland herrscht nach wie vor ein unterbewusstes kollektives schlechtes Gewissen», sagt er in Bezug auf die Gräuel des Zweiten Weltkriegs. «Jetzt kann Deutschland der Welt zeigen, dass man sich verändert hat.»
Zudem sei die Flüchtlingsmigration in Deutschland traditionell ein viel grösseres Thema. «Nach dem Zweiten Weltkrieg war man mit 17 bis 18 Millionen Flüchtlingen aus dem Osten und dann aus der DDR konfrontiert.» Dies habe das Land nachhaltig geprägt.
Auch auf politischer Ebene hat sich ein Wandel vollzogen. Bis vor wenigen Tagen sah sich Angela Merkel mit der Kritik konfrontiert, sich zu wenig vehement gegen fremdenfeindliche Tendenzen in der Bevölkerung ausgesprochen zu haben. Nun hat die Kanzlerin selbst Vertreter von Hilfswerken verblüfft, als bekannt wurde, dass Deutschland Tausenden Flüchtlingen vorübergehend die Einreise erlaubt – und sich damit aus humanitären Gründen über die Dublin-Verordnung hinwegsetzt. Heute Nacht beschloss die deutsche Regierung zudem, im nächsten Jahr sechs Milliarden Euro zusätzlich für das Flüchtlingswesen zur Verfügung zu stellen.
Wahrnehmung könnte kippen
Massnahmen, die angesichts der positiven Haltung Flüchtlingen gegenüber von der Bevölkerung aktuell gestützt werden. «Doch man muss sich bewusst sein, dass es nicht viel braucht, dass die Wahrnehmung in der Bevölkerung kippen könnte», sagt Guldimann.
Probleme bei der Integration, eine mögliche Erhöhung der Kriminalitätsrate, die Verschlechterung der Situation auf dem Arbeitsmarkt – dies alles könnte aus Sicht Guldimanns zu einem Wandel der öffentlichen Wahrnehmung führen. Die grösste Gefahr stelle aber ein Anschlag dar, durchgeführt von IS-Schergen, die sich unter die Flüchtlinge mischen und so nach Europa gelangen könnten. «Dann haben wir ein riesiges Problem», sagt Guldimann.
Die Wahrnehmung in Deutschland beeinflusse zudem diejenige der Schweizer. Aktuell profitierte die Schweiz von der offenen Haltung der Deutschen, die positive Stimmung schwappe auf die Schweiz über. «Kippt in Deutschland aber die Wahrnehmung, dann könnte sie auch in der Schweiz kippen.» (lha)