Ich bin nicht der Einzige, der gerührt war. Glauben Sie mir. Als Wolodimir Selenski an diesem Donnerstag gegen 11.30 Uhr seine Rede vor dem Europäischen Parlament beendete, brach unsere übliche journalistische Distanz ein wenig zusammen. Eine halbe Stunde lang hatte der ukrainische Präsident im Brüsseler Plenarsaal Europa und seine Lebensweise gelobt: «Ein Europa, in dem Staaten und Gesellschaften versuchen, einander zu helfen und ihre unterschiedlichen Werte verstehen. Wo Grenzen nicht verletzt werden.»
Wir alle wussten, dass diese Rede sehr politisch sein würde. Wir wussten, dass Wolodimir Selenski mit seinem schauspielerischen Talent alles unternehmen würde, um die Europäer dazu zu bringen, zuzugeben, dass die von Russland angegriffenen Ukrainer Teil ihrer Familie sind.
Selenski sagt nichts Neues
Aber wie kann man die Emotionen beherrschen, selbst wenn sie erwartet und vorausgesehen werden? «An dem Tag, an dem wirklich Frieden herrscht, sind sie in der EU. Darauf wette ich», flüstert mir ein Parlamentsdiener zu, zwischen zwei ungarischen Abgeordneten, die nicht sehr gesprächig sind. «Unsere EU war immer an ihrer Seite.»
Ich habe mir die Rede von der Pressetribüne aus angesehen. Ganz hinten. Eingeklemmt zwischen zwei Kameras: derjenigen des Parlamentsfernsehens und jener eines polnischen TV-Senders. Wolodimir Selenski sagte nichts Neues. Er zählte auch nicht die schweren Waffen auf, die seine Armee braucht, um Widerstand zu leisten.
Immer wieder sagt er «Danke»
Er begnügte sich lediglich damit – wie schon am Mittwoch in London und Paris – erneut zu betonen, dass eine Armee ohne Luftunterstützung, das heisst ohne moderne Flugzeuge, heute eine aufgegebene Armee ist. Die Stärke seiner Rede bestand nicht darin, tragische Worte zu verwenden. Seine Stärke bestand darin, dass er mindestens zehnmal «Danke» sagte. Der politische Schauspieler Selenski spielte heute Vormittag eine seiner besten Rollen in einem Raum, in dem in letzter Zeit nach der Katar-Affäre der traurige Geruch von Korruption mitschwingt.
Der Krieg. Seine Toten. Seine Schrecken. Seine Kämpfe. Selnski, in seinem schwarzen Pullover mit dem ukrainischen Dreizack, sprach darüber mit Worten, die hier vor ihm noch niemand benutzt hatte. Auch andere Länder auf dem europäischen Kontinent waren mit Kriegen konfrontiert gewesen, insbesondere während des Zerfalls des ehemaligen Jugoslawiens. Kroatien und Slowenien, die zu Vollmitgliedern geworden sind, haben die Schrecken dieses Konflikts erlebt. Doch die Europäer betrachteten diesen Krieg damals – und das war eine Tragödie – nicht als ihren eigenen. Sie zögerten zu lange. Sie liessen zu, dass der Balkan in Flammen aufging.
«Die Zukunft der Ukraine liegt in der EU»
Jetzt gibt es einen Wandel. Parlamentspräsidentin Roberta Metsola ist nur wenige Meter von mir entfernt, auf der Tribüne, und sitzt neben dem ukrainischen Präsidenten. Sie starrt auf Ursula Von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission, und hinter ihr auf alle Kommissare. Der lange Applaus der Europaabgeordneten ist gerade zu Ende gegangen.
Die Präsidentin des Europäischen Parlaments besiegelt den Pakt mit Kiew live: «Ich bin stolz darauf, sagen zu können, dass dieses Haus der europäischen Demokratie, seine Mitglieder – unsere Europäische Union – immer an Ihrer Seite waren. Wir verstehen, dass ihr nicht nur für eure Werte kämpft, sondern auch für unsere. Für jene Ideale, die uns als Schwestern und Brüder verbinden. Die uns alle zu Europäern machen. Denn die Ukraine ist Europa, und die Zukunft Ihrer Nation liegt in der Europäischen Union.» Dieses Versprechen werden Selenski und die Ukrainer wohl nie vergessen.
Was für eine rhetorische Strategie!
Was an Selenski am meisten auffällt, ist seine Redekunst. Er weiss, wie man mit Worten kämpft. Sein «Danke» klingt richtig. Sein Lob des «europäischen Lebensstils» auf Englisch taucht plötzlich in der Mitte seiner Rede auf, die auf Ukrainisch gehalten wurde. Selenski spricht über den Krieg wie einer, der ihn hasst. Das ist seine Stärke. Er weiss, dass die 27 Staats- und Regierungschefs im benachbarten Gebäude des Europäischen Rates auf ihn warten. Also bombardiert er sie – mit Worten.
«Dieser totale Krieg, der von Russland begonnen wurde, ist nicht nur ein einfacher territorialer Krieg in einer Ecke Europas. Schritt für Schritt hat der Kreml versucht, das menschliche Leben auszulöschen. 140 Millionen russische Bürger sind nichts weiter als Kanonenfutter, Menschen, die lediglich dazu berufen sind, eine Waffe zu tragen. Das ist die Vorherrschaft des Gehorsams.» Gehorsam oder Freiheit: Um diese Frage geht es an diesem Tag in Brüssel.
Niemand kritisiert Selenkis Rede
Ich schaute mir die Europaabgeordneten an. Viele trugen ein pro-ukrainisches Erkennungszeichen. Eine Anstecknadel. Eine Krawatte in den Farben Blau und Gelb. Ein Kopftuch. Ein an der Jacke angeheftetes Abzeichen. Ganz hinten im Plenarsaal, oben, gab es kein Wort, keine pro-russische Salve von den rechtsextremen Abgeordneten, die sonst ständig den fehlenden Dialog mit Moskau bedauern. Ich sah zwei Abgeordnete der französischen Rassemblement National, die Selenski applaudierten! Nach der Rede kritisierte ihn niemand, obwohl ich Fragen stellte.
Es ging dem starken Mann in Kiew darum, seine politische Stärke zu demonstrieren. Das hat er im ersten Akt seines Besuchs in Brüssel getan. Das bedeutet bei weitem nicht, dass er alles erreichen wird. Es bedeutet auch nicht, dass die Versprechungen eingehalten werden. Aber vor dem Parlament und während die lange (sehr lange) ukrainische Hymne erklang, formte Wolodimir Selenski das Bild, das er hinterlassen will, weil es die Debatte und das Handeln bestimmt: das Bild eines grossen europäischen Widerstandskämpfers.