Vorurteil 1: Amerikaner erkennt man schon bei der Begrüssung – sie sind überschwänglich und wollen einem sogleich ihre Lebensgeschichte erzählen.
Das stimme teilweise, sagt Daniel Trusilo (40). Er ist Doktorand in International Affairs an der Universität St. Gallen und stammt aus dem Bundesstaat Maryland. «Unsere Offenheit ist eine unserer besten Qualitäten, denn so findet man an neuen Orten schnell Anschluss», sagt der 40-Jährige. In Amerika lerne man schon als Kind, auf andere zuzugehen und sich so einladend wie möglich zu verhalten. Das bestätigt auch Cedric Sumo (32) aus Virginia, der vor sieben Jahren nach Lausanne VD zog. Ihm wurde in der Schweiz schon gesagt, dass man an seiner Kontaktfreudigkeit merke, dass er nicht von hier sei. Lehrassistentin Aubrey Wagg (25), die in Winterthur ZH lebt und aus Arizona kommt, meint, das habe auch damit zu tun, wie sehr man in der Schweiz integriert sei. «Als Tourist tappt man häufig in kulturelle Fettnäpfchen, weil man es einfach nicht besser weiss.» Sobald man aber etwas länger in der Schweiz lebe, gewöhne man sich daran, dass die Schweizer etwas zurückhaltender seien. Ihr sei zum Beispiel noch nie gesagt worden, sie sei überschwänglicher als die Schweizer.
Grundsätzlich stimme es nicht, dass alle Amerikaner extrovertiert seien, sagt Thomas Claviez (58), Nordamerikaexperte an der Universität Bern. Trotzdem erklärt die Geschichte des Landes ein Stück weit diese kulturelle Ausprägung. «Die Vereinigten Staaten sind ein vergleichsweise junges Land. Weite Teile des Kontinents mussten zuerst erschlossen werden, was dazu führte, dass die Siedler viel umherzogen.» Es sei diese auch noch heute sehr ausgeprägte, geografische Mobilität, die dazu führte, dass man schnell alte Kontakte hinter sich lassen und neue Bekanntschaften knüpfen müsste. Im Gegensatz zur Schweiz habe man nicht die Zeit, die es braucht, um tiefe Beziehungen aufzubauen.
Vorurteil 2: Jede freie Fläche bestücken Amerikaner mit ihrer Landesflagge. Sie sind überzeugte Patrioten und wissen wenig über den Rest der Welt.
Auch Jazzmin Dian Moore (40) teilt die patriotischen Gefühle ihrer Mitbürger. «Es ist ein wunderschönes Land – die Menschen, aber auch die Landschaft.» Der spezielle Bezug zur Landesflagge habe aber noch einen anderen Grund, so die Vertreterin von Democrats Abroad, die aus Mississippi kommt und in Zürich wohnt. Mit ihr würden in den USA vor allem die Soldaten geehrt, die für ihr Land ihr Leben riskiert oder gar verloren haben, so Moore, die aus Mississippi stammt. Daniel Trusilo wuchs in einer Vorstadt der US-Hauptstadt Washington D.C. auf – dort seien die Leute zwar patriotisch, aber durchaus auch am Rest der Welt interessiert. Aufgrund der Grösse des Landes gäbe es aber auch Teile, wo sich die Leute weniger für das internationale Geschehen interessieren. «Am meisten beneide ich Europäer und vor allem Schweizer darum, dass bei ihrem Schulunterricht Wert auf Fremdsprachen gelegt wurde. Das ist ein Geschenk und eine Chance, welche die meisten Amerikaner nicht bekommen», so Trusilo.
Dass die Bildung beim Wissen über den Rest der Welt eine entscheidende Rolle spiele, sagt auch Amerika-Experte Thomas Claviez. «Das amerikanische Schulsystem ist extrem zweigeteilt. Ob man auf einer öffentlichen oder einer Privatschule war, kann für den Bildungsgrad einen grossen Unterschied machen.» Dazu komme die Grösse des Landes. Wenn man 3000 Kilometer fahren kann und sich immer noch im gleichen Land und im gleichen Sprachraum befindet, gäbe es schlicht keine Notwendigkeit, sich mit dem Ausland auseinanderzusetzen. Mitteleuropa sei hier das komplette Gegenteil, sagt Claviez.
Vorurteil 3: Amerikaner lieben Fast Food. Je fettiger und süsser, desto besser. Auch die Portionsgrössen sind riesig im Vergleich zur Schweiz.
«Wer liebt denn bitte kein Fast Food?», sagt Jazzmin Dian Moore schmunzelnd. Dass es jedoch in den USA besonders beliebt sei, hänge damit zusammen, dass gesundes Essen oft teurer sei und sich ärmere Menschen das nicht leisten könnten. Auch James Foley (54), er ist Vertreter von Republicans Overseas Switzerland, stammt aus New Orleans und lebt in Genf, sieht den Grund beim Geld. «Amerikaner arbeiten meiner Erfahrung nach länger und härter als Europäer.» Weil sie unter anderem nur eine kurze Mittagspause und einen langen Arbeitsweg haben, brauchen sie schnelle und unaufwendige Essensmöglichkeiten – und greifen eher zum Fast Food, so der Republikaner. «Das ist ein echtes Problem», sagt Cedric Sumo. Bei der Fettleibigkeit spreche man in Amerika mittlerweile von einer Epidemie.
Dass es trotzdem einen langsamen Wandel in der amerikanischen Esskultur gibt, bestätigt Experte Thomas Claviez. Immer mehr Amerikaner legen Wert auf eine gesunde und lokale Ernährung und kaufen bei Biomärkten ein.
Vorurteil 4: Amerikaner lieben Schusswaffen und wollen sich das Recht, Waffen zu tragen, auch nicht einschränken lassen.
«Ich habe im US-Militär gedient und habe dort den Umgang mit Waffen gelernt», sagt Daniel Trusilo. «Und trotzdem will ich keine in meinem Haus.» Der Forscher der Universität St. Gallen verstehe nicht, wieso viele Amerikaner den Waffenbesitz so zelebrieren. Anders Aubrey Wagg: Sie wünscht sich zwar wegen der Gewalt in den USA strengere Waffengesetze, trotzdem weiss sie, dass Jagen oder Sportschiessen bei ihnen zur Kultur gehört. So sieht das auch James Foley, der hier in der Schweiz jedes Wochenende an den Schiessstand geht. «Sobald meine Tochter alt genug ist, wird sie schiessen lernen, genau wie Tennis spielen oder golfen. Es ist eine Tradition», so der Republikaner. Er findet das Waffengesetz in der Schweiz zwar zu streng, er schätze jedoch, dass diese Freiheit in der Schweiz aufrechterhalten wird. Sowohl die USA als auch die Schweiz könnten beim Thema Waffen voneinander lernen.
Vorurteil 5: Polizeigewalt ist in den USA an der Tagesordnung.
Bei diesem Stereotyp scheiden sich die Geister entlang der politischen Haltung. Laut Republikaner James Foley sei der grösste Grund, wieso Polizeikontrollen in den USA eskalieren, der fehlende Respekt vor den Polizisten. «Wenn jemand nicht kooperiert, muss ein Polizist sich darauf gefasst machen, selbst angegriffen zu werden.» Dem stimmt Demokratin Aubrey Wagg zwar zu, betont jedoch, dass das kein Grund für die vielen Polizeimorde in den Vereinigten Staaten sein dürfe. «Es ist nicht der Job der Polizei, Menschen hinzurichten.» Fehlende Kooperation sei kein Grund, jemanden zu töten, so Wagg. Auch Jazzmin Dian Moore weiss, dass die meisten Polizisten das Beste aus schwierigen Situationen zu machen versuchen. Nicht jeder Cop sei ein schlechter Cop. Trotzdem sei sie als Person of Color damit aufgewachsen, vor der Polizei Angst haben zu müssen. «Egal ob du in Amerika im schicken Anzug oder im Basketball-Tenue kommst – wenn du schwarz bist, wirst du von der Polizei anders behandelt.» Das gelte auch für Europa und die Schweiz. Den systematischen Rassismus, der der Polizei zugrunde liegt, müsse man thematisieren, so Moore.
Für Amerika-Experten Thomas Claviez zeigt dieser Punkt, wieso Vorurteile gefährlich werden können. «So funktioniert Racial Profiling – man schätzt jemanden wegen seines Aussehens als Bedrohung ein und wendet darum zum Selbstschutz schneller Gewalt an.» Doch auch wenn kein Leben auf dem Spiel stehe, sollte man seine eigenen Vorurteile immer hinterfragen, so Claviez. Weil von Einzelfällen auf das Gesamte projiziert werde, seien Vorurteile immer moralisch verwerflich.