Wenige Kilometer davor
Taliban nähern sich Kabul

Während die Taliban bereits wenige Kilometer vor der Hauptstadt Kabul stehen, hat sich Präsident Aschraf Ghani nach langem Schweigen in einer TV-Ansprache zur Lage geäussert.
Publiziert: 14.08.2021 um 15:50 Uhr
Passagiere gehen zum Abflugterminal des internationalen Flughafens Hamid Karzai in Kabul. Die militant-islamistischen Taliban setzen ihren Vormarsch in Afghanistan fort und rücken dabei immer näher an die Hauptstadt Kabul heran. Foto: Rahmat Gul/AP/dpa
Foto: Rahmat Gul

Dabei ging er nicht auf Spekulationen ein, er könne zurücktreten, um den Weg für eine Einigung mit den militanten Islamisten frei zu machen.

Er sei sich der schlimmen Lage bewusst und sehe es als seine «historische Aufgabe» an zu verhindern, dass weiter unschuldige Menschen getötet würden und die Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre verloren gingen, sagte Ghani am Samstag. Er habe Gespräche mit politischen Führern des Landes und internationalen Partnern begonnen und wolle «bald» Ergebnisse vorstellen.

Die Taliban setzen am Samstag ihren Vormarsch in Afghanistan fort: Nur etwa 35 Kilometer vor Kabul habe es am Morgen Gefechte um Maidan Schar gegeben, der Hauptstadt der Provinz Wardak, sagte die Abgeordnete Hamida Akbari der Deutschen Presse-Agentur. Die Taliban beherrschten bereits einen Grossteil der Provinz.

Auch in die Grossstadt Masar-i-Scharif, wo die Bundeswehr noch bis Juni ihr Hauptquartier hatte, versuchten die Taliban am Samstag einzudringen. Sie konnten aber nach Angaben örtlicher Politiker zurückgedrängt werden. Der Ex-Provinzgouverneur Mohammad Atta Nur und der frühere Kriegsfürst Abdul Raschid Dostum haben in der Nordprovinz Balch, in der Masar-i-Scharif liegt, eine Verteidigungslinie aufgebaut. Die Taliban haben umliegende Provinzen bereits eingenommen.

Seit der Entscheidung über den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan Mitte April haben die Taliban grosse Teile des Landes erobert. Mittlerweile stehen 20 der 34 Provinzhauptstädte unter ihrer Kontrolle. Landesweit gingen die Kämpfe am Samstag in mindestens fünf Provinzen weiter. Die militanten Islamisten konnten zwei kleine Provinzhauptstädte übernehmen.

Scharana in der Provinz Paktika mit geschätzt 66 000 Einwohnern sei nach Vermittlung Ältester den Taliban kampflos übergeben worden, bestätigten lokale Behördenvertreter. Wenig später bestätigten mehrere lokale Behördenvertreter, dass Regierungsvertreter und Sicherheitskräfte auch Asadabad, die Hauptstadt der Provinz Kunar im Osten des Landes mit geschätzt 40 000 Einwohnern, verlassen hätten. Man habe so zivile Opfer und Zerstörung verhindern wollen.

Zuvor waren mit Herat und Kandahar bereits die dritt- und die zweitgrösste Stadt des Landes an die Islamisten gefallen. Mit Pul-i Alam in der Provinz Logar haben die Taliban auch eine Provinzhauptstadt rund 70 Kilometer südlich von Kabul eingenommen.

Westliche Staaten beschleunigen derweil ihre Bemühungen, eigenes Personal und afghanische Ortskräfte vor den rasch vorrückenden Taliban in Sicherheit zu bringen. Das US-Aussenministerium kündigte an, dass die dazu gedachte Verstärkung der US-Truppen in Afghanistan um rund 3000 Soldaten bis Sonntag grösstenteils in Kabul sein werde. Der britische Premier Boris Johnson sagte, Mitarbeiter der britischen Botschaft sollten Kabul binnen Tagen verlassen.

Auch Deutschland will laut Aussenminister Heiko Maas das Botschaftspersonal auf das «absolute Minimum» reduzieren. Mit zwei Flugzeugen sollen Personal und auch Ortskräfte ausgeflogen werden.

Die Bundeswehr begann bereits mit Vorbereitungen für einen stark abgesicherten Einsatz zur Evakuierung von Deutschen und Ortskräften begonnen. Dazu wird nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur ein vom Bundestag zu verabschiedendes Mandat vorbereitet, auf das in den vergangenen Tagen vor allem Militärexperten drängten. Zum Einsatz sollen in der kommenden Woche vor allem Fallschirmjäger der Division Schnelle Kräfte (DSK) kommen, die die Bundeswehr als Teil der Nationalen Risiko- und Krisenvorsorge für diese Aufgabe bereithält.

Ein Evakuierungseinsatz gilt als mandatierungspflichtig, weil eine Basis für das bisherige Mandat nach dem Ende des Nato-Einatzes «Resolute Support» als nicht mehr gegeben gilt. Dass es zu diesem Einsatz kommen muss, ist weitgehend unstrittig. Auch der Sender RTL/ntv berichtete am Samstag über den geplanten Einsatz.

In Afghanistan sind derzeit noch deutlich mehr als 100 Deutsche, darunter auch die Diplomaten und Mitarbeiter der Botschaft in Kabul sowie Experten anderer Ministerien und Organisationen. Die genaue Zahl der Ortskräfte ist noch unklar. So haben allein Organisationen aus dem Geschäftsbereich des Bundesentwicklungsministeriums derzeit noch mehr als 1000 einheimische Mitarbeiter in Afghanistan.

Frankreich will afghanischen Ortskräften und anderen gefährdeten Personengruppen unkompliziert Schutz in Frankreich gewähren. Als eines von nur drei Ländern stelle Frankreich weiterhin in Kabul Visa aus, hiess es am Freitagabend aus Élyséekreisen. Man bemühe sich ausserordentlich, afghanischen Künstlern, Journalisten und Vorkämpfern der Menschenrechte den Zugang nach Frankreich zu erleichtern. Zwischen Mai und Juli seien bereits 625 afghanische Ortskräfte samt Familien in Frankreich aufgenommen worden.

Der frühere Nato-General Hans-Lothar Domröse plädiert nach dem Scheitern des Afghanistan-Einsatzes für ein Überdenken des Vorgehens bei Militärengagements ausserhalb Europas. «Unser gesamtes Konzept «train assist advise» (ausbilden, unterstützen, beraten) werden wir überprüfen müssen und wir müssen fairerweise die Frage stellen: Funktioniert das ausserhalb Europas? Scheinbar nicht», sagte der Heeresgeneral am Samstag in NDR Info. Man müsse bei Auslandseinsätzen vorher politische Ziele klar setzen, langen Durchhaltewillen zeigen - oder eben nicht hingehen.

Der Westen habe in Afghanistan «350 000 Sicherheitskräfte ausgebildet, recht gut ausgerüstet. Da fliegen mehr Hubschrauber bei denen als bei der Bundeswehr. Also: Sie haben sie nicht eingesetzt, und warum nicht?» Es mangele an Kampfmoral und Loyalität, sagte Domröse. Den Soldaten «fehlt das Wofür».

(SDA)

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