Der tragische Tod von Tugçe Albayrak bewegte ganz Deutschland. Nun findet der letzte Akt des Dramas statt: Heute um 11.30 Uhr spricht das Landgericht Darmstadt das Urteil gegen den Totschläger Sanel M.
Tugçe war am frühen Morgen des 15. Novembers auf einem Parkplatz vor einer McDonald's-Filiale in Offenbach von Sanel beschimpft und anschliessend niedergeprügelt worden, als sie zwei damals 13-jährige Mädchen beschützen wollte.
Dabei erlitt sie schwere Kopfverletzungen und fiel ins Koma. Am 28. November, Tugçes 23. Geburtstag, wurden die lebenserhaltenden Massnahmen schliesslich eingestellt.
Staatsanwaltschaft fordert über drei Jahre Haft
Oberstaatsanwalt Alexander Homm fordert nach dem Jugendstrafrecht eine Gefängnisstrafe von drei Jahren und drei Monaten. Die Nebenklage verlangt eine noch höhere Strafe, ohne jedoch eine konkrete Haftdauer zu nennen.
Homm begründete das verlangte Strafmass damit, dass der Angeklagte bereits mehrfach vorbestraft sei und kriminelle Energie besitze. So sei er nach der Tat schnell geflohen, ohne erste Hilfe zu leisten. Das Schicksal der Geschädigten sei ihm egal gewesen – deshalb sei eine Gefängnisstrafe angemessen.
Verteidigung: «Die Provokationen kamen von beiden Seiten»
Die Verteidiger von Sanel. M forderten derweil in ihren Plädoyers lediglich eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und die sofortige Aufhebung des Haftbefehls.
Laut einem Bericht der «Bild» sagte Anwalt Stephan Kuhn, in der verheerenden Nacht hätten sich «zwei zornige junge Menschen» gegenübergestanden. «Beide haben vor Wut die Kontrolle verloren. Die Provokationen kamen von beiden Seiten.»
Des Weiteren meinte sein Verteidiger-Kollege Heinz-Jürgen Borowsky, der tödliche Schlag sei unglücklich gewesen und ihr Mandant habe die Folgen seines Handelns nicht absehen können.
Widersprüchliche Zeugenaussagen
Über 60 Zeugen wurden an den zehn Verhandlungstagen im Tugçe-Prozess angehört – mit oftmals widersprüchlichen Aussagen. Bis heute konnte nicht schlüssig geklärt werden, warum Tugçe und Sanel aneinandergerieten.
So bleibt es weiter strittig, ob Tugçe den beiden Mädchen wirklich geholfen hat, Sanel loszuwerden, oder ob sie die Situation möglicherweise überbewertet hat. Offen bleibt auch, was genau vor dem fatalen Schlag auf dem Parkplatz passierte – vor allem, wer wen dort zuerst beleidigte.
Experten rechnen mit Bewährung
«Nur mit Zeugenbeweisen alles aufzuklären wäre äusserst schwierig gewesen», sagte Oberstaatsanwalt Alexander Homm. Nutzen konnten die Prozessbeteiligten allerdings Aufnahmen mehrerer Überwachungskameras am Tatort.
Experten gehen davon aus, dass Sanel M. mit einer Bewährungsstrafe davonkommt. Das würde bedeuten, dass der 18-Jährige den Gerichtssaal noch heute als freier Mann verlassen könnte.
Sie glauben, dass sich unter anderem die aufrichtige Reue des Ageklagten strafmildernd auswirken könnte. Gleich zu Beginn des Prozesses hatte sich Sanel M. unter Tränen entschuldigt und den tödlichen Schlag als «den schlimmsten Fehler seines Lebens» bezeichnet.
Tumulte vor dem Gerichtssaal
Das Interesse am Tugçe-Prozess ist am Tag der Urteilsverkündung so gross wie nie. Noch bevor die Platzkarten für den Gerichtssaal vergeben wurden, hätten viele Menschen bereits vor der Absperrung gewartet, teilte ein Sprecher des Gerichts mit.
In der aufgeladenen Stimmung im Gerichtsgebäude ist es laut einem Bericht der deutschen «Fuldaer Zeitung» beinahe zu einer Schlägerei gekommen. Angeblich waren der beste Freund des Angeklagten und Tugçes Grossvater aneinander geraten.
Der junge Mann soll versucht haben, sich in der Schlange der Wartenden vorzudrängeln. Der Grossvater habe ihn darauf hingewiesen, er solle sich hinten anstellen. Dieser habe ihm dann entgegnet: «Ich muss hier gar nichts, du Hurensohn.»
Anschliessend habe es der Zeitung zufolge einen grossen Aufruhr im Gebäude gegeben, wobei die Polizei mit dutzenden Beamten eingreifen musste. (gr)