An einem Abend im letzten Sommer befahl Michail Khachaturyan seine drei Töchter in die Stube. Er fand, dass das Wohnzimmer nicht genug sauber und aufgeräumt war. Eine nach der anderen zitierte er sie vor und besprühte sie mit Pfefferspray.
Dieser 27. Juli war für die drei Schwestern ein Tag wie jeder andere. Ihr 57-jähriger Vater missbrauchte und quälte sie schon immer. Die Mutter war vom Vater schon lange aus dem Haus geworfen worden. An diesem Abend beschlossen die drei Schwestern, dass sie die Misshandlungen nicht länger hinnehmen.
Maria, Angelina and Krestina Khachaturyan (18, 19 und 20) warteten, bis er in seinem Schaukelstuhl einschlief, und fielen über ihn her. Eine sprühte ihm den Pfefferspray ins Gesicht, eine andere stach mit dem Messer auf in ein, die dritte schlug ihn mit dem Hammer blutig.
Sein Leben oder ihres – eine andere Wahl sahen sie nicht. Er wehrte sich und starb in wenigen Minuten. Dann riefen sie die Polizei. Sagten, sie handelten in Notwehr.
Täterinnen oder Opfer?
Letzten Monat wurden sie wegen vorsätzlichen Mordes angeklagt. Das wühlt Russland auf. Viele sind empört, wie die Justiz mit häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch umgeht. Zahllose Menschen setzen sich für sie ein und klagen das russische Rechtssystem an, das die Augen vor häuslicher Gewalt verschliesse.
Auf Twitter läuft eine Solidaritätskampagne unter dem Hashtag #FreeKhachaturyanSisters, und mehr als 230'000 Menschen haben in Russland eine Petition für die Schwestern unterzeichnet. Sie fordern, dass die Staatsanwälte die Mordanklage fallen lassen. Den jungen Frauen drohen bis zu 20 Jahre Haft.
Solidarität für die Schwestern
Menschen weltweit demonstrierten vor 20 Botschaften Russlands in Solidarität mit Maria, Angelina und Krestina. In Moskau war eben eine Grossdemonstration geplant, die aber abgesagt wurde, weil sich die Behörden weigerten, für Sicherheit zu sorgen.
Häusliche Gewalt war in Russland lange ein Tabuthema. Präsident Wladimir Putin hat sie noch im Jahr 2017 mit einem Gesetz entkriminalisiert. Die Behörden ignorieren das Problem, häusliche Gewalt ist im Gesetz nicht einmal definiert, und die Polizei verschliesst routinemässig die Augen vor Missbräuchen.
Wenn jemand ein Mitglied der eigenen Familie schlägt und Blutungen oder Blutergüsse verursacht, droht eine Geldstrafe, solange dies nicht mehr als einmal im Jahr geschieht. Anwälten zufolge werden jedoch jedes Jahr mehr Misshandlungen angezeigt. Die Khachaturyan-Schwestern sind kein Einzelfall.
«Im Gefängnis besser dran als zu Hause»
Gerichtsdokumente belegen, dass die drei Schwestern seit vielen Jahren geschlagen und sexuell missbraucht wurden. Selbst in der Wohnung feuerte der Kriegsveteran manchmal die Waffe ab. Auch Nachbarn und Familie bedrohte er mit Gewalt, auf den Sohn hatte er schon geschossen.
Er trieb die drei Schwestern an den Rand des Wahnsinns. «Am ersten Tag, als wir uns trafen», sagte Krestinas Anwalt Alexei Liptser, «sagte sie, dass sie hier im Gefängnis besser dran ist als zu Hause.»
Zur Polizei konnten sie nicht gehen, und die Schule hatten sie die meiste Zeit geschwänzt, dermassen belastete sie ihr Vater. Die Staatsanwaltschaft will nichts von langjährigem Missbrauch und lebensbedrohender Gewalt wissen. Sie besteht darauf, dass Maria, Angelina und Krestina wegen Mordes verurteilt werden. (kes)