Was Erdogan nicht hinbekam
Kurden schneiden Dschihad-Touristen den Weg ab

Der IS braucht Nachschub von aussen. Nicht nur Material, auch neue Kämpfer gelangen ständig ins «Kalifat», vor allem an der syrisch-türkischen Grenze in Tel Abjad. Jetzt stehen kurdische Einheiten hier vor dem Triumph - und belohnen sich damit selbst.
Publiziert: 15.06.2015 um 21:31 Uhr
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Aktualisiert: 10.09.2018 um 13:32 Uhr
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Auf der Flucht vor heftigen Kämpfen zwischen der Terror-Miliz des Islamischer Staatsund kurdischen Einheiten, sind tausende von Syrern in die Türkei geflüchtet. Am Grenzübergang Akçakale kam es zu chaotischen Szenen. In ihrer Verzweiflung versuchten Dutzende, über die Absperrungen zu klettern oder unter dem Stacheldraht durchzukriechen.
Foto: AP/AFP
Von Melchior Poppe

Der Kampf gegen die Milizen des Islamischen Staats ist am Wochenende wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Diesmal sind es Bilder von Flüchtlingen, die schockieren: Sie stehen durstig an Syriens Grenze zur Türkei und dürfen nicht hinüber. Als sie schliesslich von IS-Kämpfern mit Kalaschnikows zurück in die Stadt Tel Abjad getrieben werden, schauen die türkischen Grenzwächter tatenlos zu.

Zuvor hatten die Soldaten sogar selber mit Wasserwerfen die Menschen zurückgedrängt, die über den Grenzzaun klettern wollten. Sie handeln entsprechend der Vorgaben, die ihnen die türkische Regierung vorschreibt: Staatspräsident Erdogang will die Grenze nur noch dann öffnen, wenn «humanitäre Tragödien» drohen. Das ist aus Sicht der Türkei in Tel Abjad nicht der Fall.

Tel Abjad bislang wichtigstes Eingangstor zum IS-«Kalifat»

Doch was spielt sich hinter der Grenze in Syrien ab? Weshalb wollen die Menschen plötzlich in die Türkei fliehen? Die Truppen des IS kontrollieren Tel Abjad schon lange. Wer nach ihrer Machtübernahme geblieben war, hat längst gelernt, sich mit der Herrschaft der Islamisten zu arrangieren. Die Grenzstadt war bislang sogar das wichtigste Eingangstor zum «Kalifat» des Islamischen Staats. Tausende ausländische Dschihadisten erhielten hier ihre Einreiseerlaubnis. Anschließend reisten sie in die nur 110 Kilometer entfernte «IS-Hauptstadt» Rakka weiter.

Der Grund für die Panik der Menschen: Genau diesem ungehinderten Strom ausländischer Dschihad-Touristen wollen die Kurden ein Ende bereiten. US-Präsident Barack Obama hatte die türkische Regierung zuvor ermahnt, mehr für eine Unterbindung des unerwünschten Grenzverkehrs zu tun - vergebens. Erst seitdem syrische Kurdenmilizen die Stadt von Osten und Westen angreifen, ist der «Grenzübergang» geschlossen. Tausende Zivilisten flohen zuvor vor den Kämpfen.

Eroberung von Tel Abjad steht kurz bevor

Tatsächlich neigt sich die IS-Herrschaft rund um Tel Abjad Beobachtern zufolge nun ganz ihrem Ende zu. Die meisten Dörfer der Region haben die YPG, die mit der türkischen Kurdenpartei PKK verbündeten «Volksverteidigungseinheiten», bereits erobert. Zum Teil kampflos, denn zahlreiche Dschihadisten sind nach Tel Abjad geflohen. Inzwischen haben die YPG die Stadt umzingelt, die Einheiten seien bis auf 50 Meter an die Stadt herangerückt und lieferten sich heftige Gefechte mit den IS-Kämpfern, sagte ein Kommandant der Kurden am Sonntag.

In die Stadt hinein schafften es die Kurden demnach bislang noch nicht. Doch es scheint nur eine Frage der Zeit, bis Tel Abjad in ihre Hände fällt. Denn genau wie bei der Rückeroberung Kobanes werden sie massiv von der US-Luftwaffe mit Bombenangriffen unterstützt. Dabei gehen die Kurden und ihre Verbündeten laut eigener Aussage aber vorsichtig vor: Sie wollen zivile Opfer vermeiden.

Kurdische Gebiete werden mit einander verbunden

Genau das aber nutzen die IS-Kämpfer aus. Um zu überleben, wollen sie die Einwohner von Tel Abjad als menschliche Schutzschilder einsetzen, befürchten Experten. Deshalb braucht der IS die Kurden und Araber und hindert sie an der Flucht über die Grenze im Norden. Mit der Hilfe der Türkei, die dies natürlich leugnet - aber einen Kurdenstaat an ihrer Grenze fürchtet.

Die Kurden erwarten von der Rückeroberung der Region einen weiteren wichtigen Erfolg: Zwei der drei bislang nicht miteinander verbundenen westkurdischen Gebiete würden so aneinandergrenzen, zumindest dank eines Korridors. Die Kurden hätten in Syrien ein bedeutendes zusammenhängendes Gebiet unter ihrer Kontrolle, das bis zur irakischen Grenze reicht - einer weiteren Hochburg der Kurden.

Die Kurden in Syrien haben bald zwei ihrer drei Gebiete mit einander verbunden
Foto: nationalia.info

Bis zu 40 Prozent der Bevölkerung von Tel Abjad ist kurdisch

In Tel Abjad (kurdisch Girê Sipî) selbst leben überwiegend Araber, aber auch grosse kurdische und türkische Gemeinden. Ehe die Stadt von den IS-Milizen erobert wurde, waren bis zu 40 Prozent der Bevölkerung Kurden. Die meisten von ihnen flohen bei der Ankunft der Dschihadisten.

Die Verbindung der drei westkurdischen Gebiete ist das erklärte Ziel der YPG, seit sie 2012 ihre Unabhängigkeit von Syrien ausgerufen hatten. Nun sind sie ihrem Ziel ein bedeutendes Stück näher gekommen. Doch zwischen den Städten Azaz (Efrîn) und Jarabulus (Kobane) kontrolliert der IS noch immer ein grosses Gebiet entlang der türkischen Grenze. (pom)

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