Dieses Bild machte Schlagzeilen: fünf Frauen, die meisten noch jünger als 40, an der Spitze eines EU-Landes. So überraschte Finnlands neue Regierung im Dezember 2019. Die damals erst 34 Jahre alte Sozialdemokratin Sanna Marin war gar die jüngste Ministerpräsidentin der Welt. Marin, aufgewachsen in einer Regenbogenfamilie, verheiratet mit einem Fussballspieler und Mutter einer Zweijährigen, führt seither die Regierungskoalition aus fünf Parteien. Und das ziemlich erfolgreich: Die Corona-Krise ist auch ohne kompletten Lockdown unter Kontrolle, und als erstes Land der Welt will Finnland bis 2035 klimaneutral werden.
Während sich internationale Medien um den politischen Shootingstar reissen, ist Marin in ihrer Heimat selbst kaum etwas Besonderes. Neben Neuseeland ist Finnland das einzige Land, in dem bereits zum dritten Mal eine Frau die Regierungsgeschäfte führt.
«Wenn Frauen Verantwortung übernehmen müssen, wenn sie die Möglichkeit dazu haben, dann machen sie das auch», sagt Antti Kauppinen von der Universität in Helsinki. Der Philosophieprofessor sieht die Gründe für Finnlands Erfolg bei der Chancengleichheit tief in der Geschichte des vergleichsweise jungen Staates (Finnland wurde erst 1917 unabhängig) verankert. «Erst haben uns die Schweden besetzt, dann die Russen. Deshalb hatten wir keine eigene Elite oder einen Adel.» Auch die Kirchen hatten keinen grossen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung. Stattdessen gewannen gemeinschaftliche Werte an Bedeutung. «Man schaut traditionell darauf, was die Leute können, was sie zur Gemeinschaft, zur Gesellschaft beitragen können: ihre Fähigkeiten, ihre harte Arbeit.» Auch Sanna Marin und die anderen Frauen hätten es so selbstverständlich in die Regierung geschafft, weil sie «extrem kompetent» seien.
Der Norden ist Spitzenreiter bei Gleichstellung und Zufriedenheit
Die finnische «Frauenregierung» ist in guter Gesellschaft. Keine Region hat gesamthaft so viele Frauen in der Politik wie «the nordics», die nordischen Länder, wie Island, Norwegen, Finnland, Schweden und Dänemark im politischen Kontext bezeichnet werden.
Alle fünf haben Frauen früh politische Rechte verliehen. Finnland etwa hat 1906 als erstes europäisches Land das Frauenstimmrecht eingeführt. Und: Alle bauten früh ihre Sozialsysteme auf, führten öffentliche Kinderbetreuung und Elternzeiten ein, stellten das Wohl ihrer Bürger in den Mittelpunkt. Die Menschen im Norden gelten laut Studien als die glücklichsten der Welt.
«Die Zufriedenheit basiert vor allem auf der Sicherheit, dem Selbstwert und der Selbstachtung, die indirekt oder direkt durch den Wohlfahrtsstaat gefördert werden», sagt der Philosophieprofessor Kauppinen. «Und es gibt einige Verbindungen zwischen dem Wohlergehen der Bürger und der Gleichstellung.»
Die nordischen Länder stehen auch an der Spitze des «Global Gender Gap Index» des WEF. Lediglich Dänemark fällt mit Platz 14 leicht ab – aktuell sind hier auch nur knapp 40 Prozent Frauen im Parlament, also nur minimal mehr als in der Schweiz, die im Gender-Gap-Index 2020 Rang 18 belegt. Vier der nordischen Länder werden aktuell von einer Frau geführt. Nummer fünf, Schweden, bekennt sich unter Ministerpräsident Stefan Löfven (63) zur ersten feministischen Regierung: Die Gleichstellung der Geschlechter steht «im Mittelpunkt von Entscheidungsfindung und Mittelvergabe».
Frauenanteil in der Politik nimmt weltweit zu
Seit 1997 hat sich der Anteil der Frauen in Parlamenten laut Daten der Weltbank weltweit mehr als verdoppelt – von rund 12 Prozent auf mehr als 25 Prozent. Die höchste Frauenquote im Parlament hat aktuell Ruanda. Und vor zwei Jahren gab es kurzzeitig sogar 19 weibliche Regierungschefs weltweit (siehe Grafik). In den 1960er-Jahren war es gerade mal eine: Sirimavo Bandaranaike (1916–2000), die die singhalesische Freiheitspartei SLFP in Sri Lanka nach der Ermordung ihres Mannes übernahm und drei Wahlen gewann.
Besonders in den vergangenen Jahren gab es zahlreiche Pionierinnen in politischen Spitzenämtern:
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Jacinda Ardern (40), regiert seit 2017 Neuseeland und bekam während ihrer ersten Amtszeit ein Kind
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Audrey Tang (39), seit 2016 Taiwans Digitalministerin und die erste Transfrau in einem Ministeramt weltweit
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Ursula von der Leyen (62), seit 2019 die erste EU-Chefin
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Kamala Harris (56), seit Januar die erste US-Vizepräsidentin
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Kaja Kallas (43), seit vergangener Woche die erste Ministerpräsidentin Estlands – vorgeschlagen von der ersten estnischen Staatspräsidentin
Frauen in Spitzenämtern sind – einmal etabliert – ein Selbstläufer. Frauen in Machtpositionen fördern mit einer höheren Wahrscheinlichkeit die Gleichstellung mit Gesetzen und Massnahmen. Mehr Frauen in der Politik führen also zu noch mehr Frauen in der Politik.
Wann sind es «genug» Frauen? Diese Frage wurde Ruth Bader Ginsburg (1933–2020) als zweiter Frau im neunköpfigen US Supreme Court oft gestellt. «Ich sage dann immer: neun – und die Leute sind schockiert. Aber es gab ja auch schon neun Männer gleichzeitig, und niemand hat das je in Frage gestellt.»
Noch gelten die Finnin Sanna Marin und ihre «Frauenregierung» als Ausnahme. Aber die junge Politikerin hat ja auch noch Zeit. Geografisch nicht so weit von Finnland entfernt, tritt im September mit Angela Merkel (65) nach 16 Jahren an der Spitze Deutschlands Europas am längsten amtierende Regierungschefin ab. Ihr Nachfolger wird voraussichtlich ein Mann sein. Und nicht wenige der nach der Jahrtausendwende geborenen «Generation Merkel» fragen sich: Ob der wohl Kanzlerin kann?