Wahl in Frankreich – die Entscheidung
Der grosse Graben

Marine Le Pen oder Emmanuel Macron? Es ist ein Kampf Stadt gegen Land. Heute um 20 Uhr wissen wir, wer Frankreich bis 2022 regieren wird.
Publiziert: 07.05.2017 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 13:55 Uhr
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Emmanuel Macron: Er ist populär in den grossen Städten. Le Pen verkörpert für ihn «den Geist der Niederlage».
Foto: Getty Images
Benno Tuchschmid und Gabi Schwegler

Die Hügelzüge im Südwesten Frankreichs folgen einander wie Meereswellen. Auf einem ragt eine weisse Kirche, zerstreut stehen ein paar Häuser und Höfe um sie herum. Seit 17 Jahren wohnt Ruedi Baumann (69) im 80-Seelen-Dorf Traversères. Der ehemalige Nationalrat und Präsident der Grünen Par­tei Schweiz bestellt als Bio­bauer 70 Hektar Land. «Manchmal sehe ich tagelang keinen Menschen», sagt Baumann.

Das ist das eine Frankreich: Traversères. Die nächste grosse Stadt, Toulouse, liegt 80 Kilometer entfernt. Dort ist das an­dere Frankreich. Am heutigen Wahltag trennt ein tiefer Graben diese Welten.

Auf dem Land liegen für Le Pen 25 Prozent drin

Ruedi Baumann lebt auf der einen Seite. Und wählt wie die andere. Er lebt dort, wo Marine Le Pen (48) heute Sonntag die Stimmen für ihre Präsidentschaft holen will. Auf dem Land. In Traversères legten 25 Prozent im ersten Wahlgang Le Pen ein. In der 450 000-Einwohner-Stadt Toulouse holt die extreme Nationalistin gerade mal 9,41 Prozent, in Paris sogar nur fünf Prozent. Denn das ist das Frankreich Emmanuel Macrons (39).

Ex-Nationalrat Ruedi Baumann wohnt seit 17 Jahren im kleinen Dorf Traversères.
Foto: Philippe Guionie/Myop

Wenn Le Pen auf Stimmenfang geht, bezeichnet sie ihren Gegner als «Kandidaten der wilden Globalisierung ». Wenn Macron für sich wirbt, sagt er über seine Gegnerin, sie verkörpere «den Geist der Niederlage».

Hier verläuft die Trenn­linie in dieser Präsidentschaftswahl. Zwischen Stadt und Land. Zwischen jenen, die Globalisierung als Bereicherung sehen, und jenen, die sich dadurch bedroht fühlen. Dieser Gegensatz bestimmt die politische Auseinandersetzung. In Frankreich, in Europa, in der westlichen Welt.

Über die Hälfte der Bevölkerung lebt in der Stadt

Mehr als 50 Prozent der Menschheit leben heute in Städten, 1950 waren es noch 30 Prozent. Der grosse Wachstumstreiber war seit dem 19. Jahrhundert der Welthandel, sagt Michael Goebel (41), Professor für globale Geschichte an der Freien Universität Berlin. Er sorgte dafür, dass Industriearbeiter, die einst die Städte bevölkerten, aus den Zentren in die Agglomerationen und aufs Land verdrängt wurden – von gut ausgebildeten Arbeitskräften, für die eine globalisierte Wirtschaft reichlich Arbeit bietet.

Die demografische Verschiebung erzeugte politische Umwälzungen. Die Länder des Westens begannen, sich politisch auszudifferenzieren: in Städter, für welche Öffnung positiv klingt – und in Dorfbewohner, die sie als Bedrohung verstehen. Historiker Goebel sagt: «In den letzten Jahren hat sich diese Polarisierung in manchen Ländern, darunter Frankreich und die USA, klar verstärkt.»

Der Stadt-Land-Graben zeigt sich in allen wichtigen Abstimmungen

Der Graben zwischen Stadt und Land zeigt sich heute in allen wichtigen Abstimmungen und Wahlen westlicher Demokratien: 88 der 100 bevölkerungsreichsten Gemeinden der USA wählten am 8. November 2016 die für Freihandel und Freizügigkeit stehende Hillary Clinton – Donald Trump holte seine Präsidentschaft im Hinterland.

In Österreich stimmten neun der zehn grössten Städte bei der Wahl zum österreichischen Staatspräsidenten im Dezember für den EU-freundlichen Grünen Ale­xander Van der Bellen – der zuwanderungskritische Norbert Hofer (FPÖ) fand seine 46,2 Prozent vor allem abseits von Wien, Graz und Salzburg. Beim Brexit-Referendum in Grossbritannien stimmten die grossen Städte überwiegend für einen Verbleib in der EU, während 55 Prozent der Landbevölkerung für den Austritt votierten.

Die Schweiz war bei dieser geografischen Polarisierung eine Vorreiterin. «Die Rückbesinnung auf konservative, bewahrende Werte auf dem Land begann in der Schweiz früh», sagt Marc Bühlmann (46), Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern. Die Meinungsballung in Stadt und Land werde sich weiter fortsetzen, glaubt Bühlmann: «Menschen suchen sich ihren Wohnsitz nicht zufällig aus. Durch die Wahl des Wohnorts findet eine natürliche Auslese statt.» Die SVP, stärkste politische Kraft der Schweiz, steht beispielhaft für diese Entwicklung. In den Exekutiven der fünf grössten Schweizer Städte sitzt kein einziger Vertreter dieser Partei.

Für Republik und Demokratie

Der ehemalige Nationalrat und Präsident der Grünen Par­tei Schweiz bestellt als 
Bio­bauer 70 Hektar Land.
Foto: Philippe Guionie/Myop

Ex-Politiker Ruedi Baumann und seine Frau, die Ex-SP-Nationalrätin Stephanie Baumann (65), leben auf dem Land, wählen aber Emmanuel Macron. Beide contre-coeur, gegen ihre innere Einstellung. Ruedi Baumann: «Mein Ziel ist einzig, Marine Le Pen unter allen Umständen zu verhindern. Es ist zwingend, dass Frankreich in der EU bleibt.» Er sage das nicht nur als Bauer, der auf EU-Beiträge angewiesen sei, sondern als Bürger.

Heute Sonntag schiebt Baumann wieder einen Zettel mit Macrons Namen in den Urnenschlitz. «Mir liegen Republik und Demo­kratie am Herzen. Deshalb wähle ich ihn, obwohl er für mich eher ein Konfirmand mit undurchschaubarem Programm ist.»

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Mehr über den Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron lesen Sie hier.

Mehr über die Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen lesen Sie hier.

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