«Im schlimmsten Fall versucht Russland, die Grenzen in Europa mit Gewalt neu zu ziehen, wie es das 2008 in Georgien und 2014 in der Ukraine bereits tat», sagte Aussenminister Dmytro Kuleba am Montag in Kiew. Er nannte die Zahl von angeblich 115.000 Soldaten auf russischem Gebiet an der gemeinsamen Grenze. Was man jetzt sehe, sei «sehr ernst».
Die Aussenminister der 30 Nato-Staaten kommen an diesem Dienstag zu einer zweitägigen Sitzung in der lettischen Hauptstadt Riga zusammen. Unter Vorsitz von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wollen sie unter anderem über die Situation an den Grenzen der EU zu Belarus sowie an der Grenze zwischen der Ukraine und Russland beraten. Brisant ist das Treffen auch, weil es das erste Mal ist, dass eine Tagung der Nato-Aussenminister in dem direkt an Russland grenzenden Bündnisstaat Lettland organisiert wird.
Stoltenberg hatte sich zuletzt alarmiert über den erneuten Aufmarsch russischer Streitkräfte unweit der Ukraine gezeigt und von «grossen und ungewöhnlichen» Truppenkonzentrationen gesprochen. Zu der Frage, ob das Militärbündnis erwarte, dass Moskau die Ukraine weiter destabilisieren wolle, sagte er, Russland habe bereits bei der Annexion der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim und bei der Unterstützung der Separatisten in der ostukrainischen Region Donbass gezeigt, dass es den Willen und die Fähigkeiten habe, militärische Gewalt einzusetzen. Niemand solle zu viel spekulieren, aber der Ausbau der militärischen Präsenz sei ein Fakt und ungewöhnlich.
Die Regierung in Moskau betont hingegen, dass Russland für niemanden eine Bedrohung darstelle. Vorwürfe, russische Truppen könnten eine Ukraine-Invasion vorbereiten, wurden als Falschinformationen bezeichnet.
Als höchst besorgniserregend wird in der Nato auch der Kurs des russischen Partnerlandes Belarus gesehen. Der Führung in Kiew wird vorgeworfen, gezielt Migranten ins Land zu holen, um sie dann zur Weiterreise in die EU an die Grenze zu Ländern wie Polen und Litauen zu bringen. Die Vermutung ist, dass sich Machthaber Alexander Lukaschenko mit diesem Vorgehen für Sanktionen rächen will, die die EU wegen der Unterdrückung der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition erlassen hat.
Seit Wochen versuchen Tausende Migranten und Flüchtlinge, von der Ex-Sowjetrepublik in die angrenzenden EU-Länder zu gelangen. Wegen der angespannten Lage hatten Polen, Litauen oder Lettland bereits in Erwägung gezogen, eine Nato-Sondersitzung zu beantragen. Artikel 4 des Nordatlantikvertrags sieht Konsultationen vor, wenn ein Mitglied meint, dass die Unversehrtheit des eigenen Territoriums, die politische Unabhängigkeit oder die eigene Sicherheit bedroht sei.
Aus Deutschland wird der geschäftsführende Aussenminister Heiko Maas (SPD) zu den Beratungen erwartet. Das Treffen ist auch das erste seit dem Ende des Nato-Militäreinsatzes in Afghanistan und der Machtübernahme der militant-islamistischen Taliban. Bei den Beratungen soll es daher auch um den Stand der Aufarbeitung des Bündniseinsatzes gehen.
Ziel des knapp zwei Jahrzehnte dauernden Engagements war es eigentlich gewesen, eine Machtübernahme der Taliban zu verhindern. Davor hatten diese dem internationalen Terrorismus Unterschlupf geboten. So wurden die Anschläge, die am 11. September 2001 die USA trafen, in Afghanistan vorbereitet.
(SDA)