Vor einem Jahr wurde Jan Kuciak ermordet
Was sich seither verändert hat

Vor einem Jahr wurde der slowakische Journalist Jan Kuciak brutal ermordet. Zehntausende gingen für Pressefreiheit und gegen Korruption auf die Strasse. Seither hat sich vieles verändert. Oder doch nicht?
Publiziert: 15.02.2019 um 13:38 Uhr
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Aktualisiert: 17.02.2019 um 11:14 Uhr
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Zehntausende Slowaken gingen im letzten Frühling auf die Strasse. Sie forderten eine vertrauenswürdige Regierung und...
Foto: AFP
Vinzenz Greiner
Vinzenz GreinerRedaktor Storytelling

Um 18.28 Uhr nimmt er eine Neun-Millimeter-Pistole mit Schalldämpfer, steigt aus dem Citroën Berlingo, der ihn gerade ins Dorf Velka Maca gefahren hat. Hier, 50 Kilometer östlich der slowakischen Hauptstadt Bratislava, war der Mann mit ungarischem Nachnamen zusammen mit seinem Fahrer schon mehrmals – mal mit einem Peugeot, mal mit einem Skoda –, um den Tagesablauf eines 27 Jahre ­jungen Reports zu studieren, den 
er heute töten soll: Jan Kuciak.

An jenem Mittwochabend, es ist der 21. Februar 2018, kehrt Kuciak mit seiner gleichaltrigen Verlobten Martina Kusnirova zu ihrem Häuschen in Velka Maca zurück. Der Journalist geht in den Keller, der Mann folgt dessen Verlobter um 20.21 Uhr ins Haus, wie Gerichtsakten zeigen, die dem SonntagsBlick Magazin vorliegen. Der Mann richtet Kusnirova in der Küche mit einem Kopfschuss hin. Den Journalisten tötet er im Keller mit zwei Schüssen in die Brust.

Mafia mit Verbindungen ins 
Büro des Premiers

Der Abend zieht sich wie ein Riss durch die Geschichte des jungen Landes, teilt sie in ein Davor und ein Danach.

Wenige Tage nach dem Mord an Kuciak, der für die News-Plattform «aktuality.sk» arbeitete, die wie der SonntagsBlick zur Ringier Gruppe gehört, gehen die ersten Menschen auf die Strasse. Es werden mehr, bis schliesslich so viele demonstrieren wie seit 1989 gegen die kommunistischen Machthaber nicht mehr. Sie fordern unter dem Motto «Für eine anständige Slowakei» eine saubere Untersuchung des Mordes und eine vertrauenswürdige Regierung.
Der Mord erschüttert das Land. Politiker und Polizeibeamte verlieren ihre Jobs, die Slowakei steht vor der EU in Erklärungsnot.

Der Grund: Die Täter konnten ­Kuciak ermorden, zum Schweigen brachten sie ihn damit aber nicht: Seine Kollegen tragen seine Notizen und Reportageschnipsel zusammen und veröffentlichten sie. Der Text zeigt, wie die italienische Mafia den slowakischen Staat durch dubiose Wohnungsverkäufe um Mehrwertsteuern betrügt und unrechtmässig EU-Agrargelder abschöpft. Und, dass sie Kontakte zur sozialdemokratischen Regierungspartei Smer-SD pflegt, ja sogar Verbindungen bis ins Büro des Premierministers ­Robert Fico (54) unterhält.

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«Etwas Schlechtes ist im Fundament unseres Staates»

Dann geht alles schnell und drunter und drüber.

Nach einer Pressemitteilung zu Kuciaks Recherchen sind plötzlich alle Ringier-Server in der ­Slowakei lahmgelegt. Eine technische Panne? Ausgeschlossen. Der Polizeipräsident versucht zu verheimlichen, dass einer seiner Top-Beamten, dessen Zuständigkeit Gewaltdelikte gar nicht umfasst, den Tatort betrat. Beide sind mit einem Oligarchen eng verbunden, dessen Name sich in ­Texten von Kuciak findet. Der ­Medienminister tritt zurück.

Ein Steuerbüro in der Region, wo 
die Mafia operierte, fängt Feuer. Italiener werden verhaftet, vor ­denen die Behörden in Rom jene in Bratislava vergebens gewarnt hatten, wie Medien nachweisen. Ein Staatsanwalt zeigt den Innen­minister wegen Handlungen gegen die demokratische Grund­ordnung an. Die EU-Kommission fordert von der slowakischen Regierung Informationen über die versickerten Agrargelder, das EU-Antikorruptionsbüro eröffnet auf Basis von Kuciaks Recherchen drei Ermittlungsverfahren.

Der Staatspräsident erklärt: ­«Etwas Schlechtes ist im Fundament unseres Staates» und bringt den Umbau der Regierung ins Spiel. Darauf erklärt Premierminister Fico, der Präsident plane wohl ­gemeinsam mit dem linken un­garisch-amerikanischen Investor George Soros einen Staatsstreich. Die Opposition versuche mit den Grossdemos den Umsturz und den «Zerfall der Staatlichkeit» herbeizuführen. Die Ansteckbroschen mit der Aufschrift «Alle für Jan», die viele Demonstranten tragen, seien, so Fico, vorab im Ausland produziert worden.

Ein Polit-Thriller, nicht auf Net­flix, sondern mitten in Europa.

Verschwörungstheorie Soros-Putsch

Noch heute sieht man vereinzelt Slowaken, welche die Broschen angesteckt haben. Am Platz der grössten Demonstration in Bratislava, zu der im vergangenen März 50 000 Menschen kamen, stehen Fotos von Kuciak und Kusnirova, umgeben von Kerzen und kälteresistenten Plastikblumen.

An diesem Ort plant Karolina ­Farska für den Todestag Kuciaks wieder eine Grossdemo. Vor einem Jahr hätte sie noch für ihre Matura büffeln sollen, organisierte stattdessen die Proteste «Für eine anständige Slowakei», wurde zum Aushängeschild der Bewegung – und zur Zielscheibe.

Die 20-Jährige mit grossen Brillengläsern sitzt in einem Café unterhalb des Hügels, auf dem die Burg Bratislava thront. Spricht von Hass-Mails und Vergewaltigungsdrohungen, die sie bekomme. Vor wenigen Tagen blaffte sie jemand am Abend auf der Strasse an: «Sind Sie nicht Frau Soros?» Farska sagt: «Das sind die Folgen von Ficos Rhetorik.» Der hatte nicht nur die Verschwörungs­theorie vom Soros-Staatsstreich in die Welt gesetzt, sondern auch Journalisten als «Prostituierte» und «Hyänen» beschimpft.

Als die Slowaken gegen Fico vor einem Jahr auf die Strasse gegangen seien, hätten sie ihr Schicksal «in die eigenen Hände genommen», sagt Farska. Erzählt stolz, dass Ficos Kandidaten in den Kommunalwahlen abgestraft wurden. Aber klar: «So schnell ­ändert sich ein System nicht, das über Jahre aufgebaut wurde.»

«Wir sind auf halbem Weg»

Doch es gibt vereinzelt Ver­änderungen. Eine davon steht breitbeinig im Polizeipräsidium: Branislav Zurian. Der Mann vom Fuss der Tatra – raues Wetter, raue Menschen – grüsst mit festem Handsdruck. Ein Anpacker. Mehr als die Hälfte seines Lebens ist er schon Freund und Helfer – zumindest sieht er sich so.

Mitte August übernahm der 42-Jährige in der Nationalen Kriminalagentur (Naka) den Fall ­Kuciak. Nur sechs Wochen später wurden der mutmassliche Täter, sein Fahrer, ein Mittelsmann und die Koordinatorin des Mordes gefasst. Sie sitzen im Gefängnis. «Das war nicht mein persönlicher, sondern ein Team-Sieg», sagt Zurian emotionslos. «Wir sind auf halbem Weg.» Er geht davon aus, dass es «sicher nicht» Jahre brauche, um den Auftraggeber des Mordes zu fassen.

Steckt hinter dem Mord ein umtriebiger Unternehmer?

Dieser, davon sind viele Slowaken überzeugt, ist der dubiose Geschäftsmann Marian Kocner. Der 55-Jährige hatte Kuciak im September 2017 am Telefon gedroht, dafür zu sorgen, dass der Journalist nie wieder schreibe. Er hat nicht nur Verbindung zur mutmasslichen Koordinatorin des Mordes, sondern auch zur Politik, liess Kuciak von einem Ex-Geheimdienstler beschatten. Er sitzt derzeit in Haft, weil er Wechselscheine in Höhe von 69 Millionen Euro gefälscht hat.

Ob Zurian denn Kocner verdächtige? «Dazu kann ich nichts sagen», so der ­Polizist. War das ein Schmunzeln auf seinem Gesicht?

Dass es unter Zurian so schnell zu Erfolgen kam, halten viele für keinen Zufall. Er wurde vom 
neuen Polizeipräsidenten berufen, nachdem der alte, Tibor ­Gaspar, im Mai zurückgetreten war. Gaspar taucht bis heute in der Diskussion über Korruption im Polizeiapparat und in zahlreichen Artikeln auf. An einem sitzt gerade Peter Bardy, Chefredaktor von «aktuality.sk».
Was sich denn in der Slowakei nach dem Mord verän... «Nichts!», platzt Bardy frustriert heraus – wie immer heiser, wie immer laut. Er hat schon zu oft gesprochen, zu oft geschrieben über und gegen dieses System, das sich selbst zu erhalten weiss. Mit allen Mitteln.

Neues Mediengesetz:
«kommunistische Zensur»?

Die letzten Monate werkelte ­Bardy mit anderen Chefredaktoren, Medienrechtlern und Spezialisten aus dem Kultusministerium an ­einem Mediengesetz, das Journalisten besser schützen soll. Dann brachten Abgeordnete von Ficos Partei plötzlich einen eigenen Entwurf ins Parlament ein. Medienrechtler kritisieren, das Gesetz, falls es im März durchkommt, bringe nicht mehr Schutz für Journalisten, sondern «Zensur wie zu Zeiten des Kommunismus».

Etwa zeitgleich werden die Slowaken einen neuen Präsidenten wählen. Derzeit liegt der Kandidat der Fico-Partei gemeinsam mit einem anderen vorne. «Ich verstehe, wenn manche Leute 
das Gefühl haben, es gehe einen Schritt vor und zwei zurück», sagt die Protest-Organisatorin Karolina Farska.

Ficos Smer-SD ist laut Umfragen mit für Sozialdemokraten in Europa traumhaften 22 Prozent nach wie vor die stärkste Partei. Ex-Polizeipräsident Gaspar war zwar zurückgetreten, aber hat dann als Berater zur aktuellen Innenministerin gewechselt – die dritte, nein vierte innerhalb von zwölf Monaten. Gerade erst kam heraus, dass er einen Polizisten beauftragt haben soll, Kuciak noch vor dem Mord zu durchleuchten. Jetzt trat er zurück.

Kompliziert? Es geht noch weiter: Die mutmassliche Organisatorin des Mordes stand bis kurz vor ihrer Verhaftung in Kontakt mit Top-Politikern und einem Generalstaatsanwalt, während zwei andere Staatsanwälte hätten aus dem Weg geräumt werden sollen. Robert Fico war zwar als Premier im März zurückgetreten, installierte aber einen Zögling als Regierungschef. Fico selbst hat gute Chancen, jetzt Vorsitzender des Verfassungsgerichts zu werden. Das bedeutet: viel Macht und Immunität vor Strafverfolgung.

Heute hört man von Slowaken, die Polit-Serie «House of Cards» sei nichts gegen all das.

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