Die Staats- und Regierungschefs der EU wollen am heutigen Mittwochabend zum Auftakt des zweitägigen EU-Gipfels in Brüssel über die festgefahrenen Brexit-Verhandlungen beraten. Zunächst soll mit der britischen Premierministerin Theresa May der aktuelle Stand erörtert werden.
Im Ringen um einen geregelten Ausstieg Grossbritanniens aus der Europäischen Union will Brüssel nach Medienberichten London entgegenkommen. Brexit-Unterhändler Michel Barnier zeigte sich nach Informationen der britischen Wirtschaftszeitung «Financial Times» vom Mittwoch offen dafür, die Übergangsphase, in der sich für Bürger und Unternehmen praktisch nichts ändert, um ein Jahr zu verlängern. Im Gegenzug müsse Premierministerin Theresa May Zugeständnisse in der Streitfrage um die irische Grenze machen. Entsprechend habe sich Barnier vor dem EU-Brexit-Gipfel an diesem Mittwoch gegenüber den 27 Mitgliedsstaaten geäussert, schreibt die Zeitung. Bisher beharrte die EU darauf, dass die Übergangsphase Ende 2020 endet.
Die Verhandlungen über den Brexit steckten zuletzt fest. Auf dem Gipfel am (heutigen) Mittwochabend wollen die EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel versuchen, die Gespräche wieder in Gang zu bringen. Nötig seien konkrete neue Vorschläge aus London, hatte EU-Ratschef Donald Tusk gefordert. Möglicherweise könnte Barniers Vorschlag nun den Weg ebnen für einen Durchbruch. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wollte am Mittwochmittag in Berlin eine Regierungserklärung zur Europapolitik abgeben.
Längere Übergangsphase böte Aufschub bis 2020
Der CDU-Aussenexperte Norbert Röttgen begrüsste das Angebot aus Brüssel, die Brexit-Übergangsphase zu verlängern. «Die EU muss kompromissbereiter und pragmatischer werden«, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses am Mittwoch im «ARD-Morgenmagazin». «Ein ungeordneter Brexit wäre eine Katastrophe.«
Luxemburgs Aussenminister Jean Asselborn wies allerdings im Deutschlandfunk darauf hin, dass eine Verlängerung der Übergangsphase nichts am Druck auf die laufenden Verhandlungen ändere: Nur wenn EU und Grossbritannien sich bis Dezember auf einen Deal einigten, könne die Übergangsphase überhaupt Anfang 2020 beginnen. Für Asselborn ist klar: «Der Ball liegt bei Grossbritannien.»
Grossbritannien will die EU am 29. März 2019 verlassen. Mit einer verlängerten Übergangsphase würde sie über das Stichdatum Ende Dezember 2020 hinaus noch einige Monate länger in der Übergangsphase bleiben.
Streit um die Grenze Irlands
Grosser Streitpunkt bei den Verhandlungen zwischen London und Brüssel über einen geregelten Brexit ist die irische Grenze. Noch am Wochenende hatten die Gespräche einen herben Rückschlag erlitten, weil genau in diesem Punkt vor dem EU-Brexit-Gipfel keine Einigung zustande kam. Kontrollen an der künftigen EU-Aussengrenze in Irland sollen nämlich verhindert werden. Das EU-Mitglied Irland will keinesfalls zurück zu den vor 20 Jahren abgebauten Schlagbäumen an der heute fast unsichtbaren Trennlinie zum britischen Nordirland - aus Angst vor neuer Gewalt in der ehemaligen Bürgerkriegsregion.
Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» berichtete, Brüssel sei in den bisherigen Verhandlungen zu weitreichenden Zugeständnissen bereit gewesen. So soll sie «eine Verlängerung der Übergangsperiode ins Spiel gebracht» haben, zitiert die Zeitung aus einem Bericht der Bundesregierung. Die EU habe London angeboten, länger als geplant in Binnenmarkt und Zollunion zu bleiben. Damit hätten die Beteiligten mehr Zeit, eine Lösung für die Irland-Frage zu finden. Allerdings können es die Brexit-Befürworter in Grossbritannien kaum erwarten, die Trennung endlich zu vollziehen.
Der britische Handelsminister Liam Fox brachte seinerseits ebenfalls eine längere Übergangszeit ins Spiel, wie die britischen Zeitung «The Times» am Mittwoch berichtete. Diese Zeit sei nötig, um Freihandelsabkommen aushandeln zu können, sagte er demnach.
Ohne Vertrag zwischen London und Brüssel über den Ausstieg Grossbritanniens aus der EU würde die bereits provisorisch vereinbarte Übergangsfrist bis Ende 2020 entfallen. Ein plötzlicher und vermutlich chaotischer Bruch könnte für die Wirtschaft schwere Verwerfungen und für die Bürger grosse Unsicherheit bringen.
Nach dem Brexit-Treffen am Mittwochabend schliessen sich am Donnerstag Beratungen über weitere schwierige EU-Themen wie Migration und Cybersicherheit an. Zudem soll über die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion beraten werden. Direkt im Anschluss folgen am Donnerstagabend sowie am Freitag ausserdem ein Asien-Europa-Gipfel sowie ein EU-Korea-Gipfel.
Harter Brexit bedroht Flugverkehr
Fluggesellschaften wie Ryanair, Easyjet und British Airways, aber auch deutsche Ferienflieger wie Tuifly und Condor rüsten sich, damit ihre Maschinen Ende März nicht am Boden bleiben müssen. «Wir müssen uns in einer Situation politischer Unsicherheit auf ein No-Deal-Szenario vorbereiten», sagt der Chef der Thomas Cook Airlines, Christoph Debus.
Hintergrund ist der Luftverkehrs-Binnenmarkt der Europäischen Union. Seit den 1990er Jahren darf etwa eine irische Fluggesellschaft auch Flüge innerhalb Spaniens anbieten - oder eine britische Airline Flüge von Berlin nach Mallorca. Zuvor waren auf Auslandsflügen nur Gesellschaften der jeweiligen Start- und Zielländer zugelassen. Die neue Freiheit machte den Boom der Billigflieger möglich - und Flugreisen für die breite Bevölkerung erschwinglich. Heute fliegen die irische Ryanair und die britische Easyjet wie selbstverständlich Gäste aus Deutschland ans Mittelmeer.
Falls es zu einem ungeregelten Brexit kommt, würde Grossbritannien aus der EU und dem gemeinsamen Flugmarkt ausscheiden. Britische Fluggesellschaften könnten ihr Recht verlieren, etwa von London nach Frankfurt oder Mallorca zu fliegen. Flüge innerhalb der EU wären für sie passé. Ausser, der Politik gelingt noch eine Übergangsregelung. Schliesslich müssten auch Flüge von EU-Fluglinien nach Grossbritannien neu geregelt werden
Fluggesellschaften bereiten sich vor
Für Verkehrsrechte von Fluglinien ist nicht nur entscheidend, wo die Gesellschaft ihren Sitz hat - sondern auch, wem sie gehört. So müssen EU-Fluglinien zu mehr als 50 Prozent Eigentümern aus der Europäischen Union gehören. Ein Brexit könnte daher auch deutsche Fluggesellschaften treffen. So gehört der Ferienflieger Condor zu 100 Prozent dem britischen Reiseveranstalter Thomas Cook, der hierzulande vor allem mit seiner Marke Neckermann Reisen bekannt ist. Und an Thomas Cook halten britische Aktionäre die Mehrheit.
Der Konzern hat daher Pläne in der Schublade, um seine Fluggesellschaften für den Fall eines harten Brexits zu wappnen. «Ich glaube, dass unsere Lösung auch bei einem unkontrollierten Brexit hält», sagt Spartenchef Debus. Es gebe aber keine rechtsverbindliche Sicherheit. In der Branche gilt als denkbar, dass ein Konzern die Mehrheit an seinen Flugtöchtern abgibt. So hatten Lufthansa und andere Airlines rechtliche Hürden bei ausländischen Töchtern bereits früher durch Einrichtung von Stiftungen überwunden.
Beim weltgrössten Reisekonzern Tui gestaltet sich die Eigentumsfrage noch komplizierter. Nach bisherigem Stand wären nach einem Brexit die EU-Aktionäre bei Tui in der Minderheit - und die Flugrechte der britischen Tui Airlines und der deutschen Tuifly in Gefahr. «Wenn man nicht weiss, was passieren wird, bereitet man sich auf alles vor», versuchte Tui-Chef Fritz Joussen Aktionäre und Gäste zu beruhigen.
Natürlich will keine Airline und kein Veranstalter die eigenen Kunden verunsichern. Sie sollen guten Gewissens Flüge und Reisen für das nächste Jahr buchen mit dem Gefühl: Es wird schon weitergehen. Da die Luftfahrtunternehmen ein existenzielles Interesse daran haben, kann man davon ausgehen, dass sie alles dafür tun werden.
Mancher schlägt allerdings lautere Töne an. So drohte Ryanair-Chef Michael O'Leary seinen Aktionären aus Grossbritannien damit, ihre Stimmrechte bei einem harten Brexit zu beschneiden. Dadurch könnte Ryanair - so die Hoffnung in Dublin - weiterhin als EU-Airline gelten. In der Branche wird dies aber bezweifelt. «Die Frage, wer eine Airline kontrolliert, löst nicht die Frage der Eigentümerschaft», sagt einer, der tief im Thema steckt.
Der Billigflieger Easyjet hat derweil eine Tochtergesellschaft in Wien gegründet, die ihm die europäischen Flugrechte sichern soll. Easyjet sitzt in Grossbritannien, gehört aber zu rund einem Drittel ihrem Mitgründer, dem Unternehmer Stelios Haji-Ioannou und seiner griechisch-zypriotischen Familie. Ob dies dem Billigflieger am Ende hilft, weiterhin als EU-Airline zu gelten?
Arbeitsplätze in Gefahr
Am 23. Juni 2016 stimmte Grossbritannien für den Austritt aus der Europäischen Union. Zur Zeit verhandeln die EU und das Vereinigte Königreich über die Austrittsbedingungen. Alle aktuellen Informationen gibt es immer hier.
Am 23. Juni 2016 stimmte Grossbritannien für den Austritt aus der Europäischen Union. Zur Zeit verhandeln die EU und das Vereinigte Königreich über die Austrittsbedingungen. Alle aktuellen Informationen gibt es immer hier.
Die Zeit für eine Klärung wird knapp. Seit die Briten 2016 für den Brexit gestimmt haben, fordern Fluggesellschaften von der Regierung in London und der EU-Kommission Planungssicherheit. Experten schliessen nicht aus, dass im dümmsten Fall ab Ende März ein Teil des Flugverkehrs in Europa für einige Tage stillsteht. Für den Hamburger Luftfahrt-Berater Gerald Wissel von Airborne Consulting ein schlimmes Szenario: «Es wäre Wahnsinn, wenn es keine Flüge mehr zwischen der EU und Grossbritannien gäbe.»
Nicht nur Urlaubs- und Dienstreisen vieler Menschen wären bedroht. Es ginge um eine Menge Arbeitsplätze, nicht nur bei den Airlines. So gelten die Briten als wichtige Umsatzbringer in den Urlaubsregionen Südeuropas. Wenn künftig viele Gäste ausblieben, könnte dies vor allem kleine Reiseziele schwer treffen.
Die Luftfahrtbranche hofft, dass sich Grossbritannien und EU doch noch bis Mitte Dezember auf einen geregelten Brexit einigen. Dann blieben zwei Jahre mehr, um ein Luftverkehrsabkommen zwischen der EU und Grossbritannien auszuarbeiten. Branchenexperte Wissel rechnet fest damit, dass es zumindest für die Luftfahrt noch eine Übergangslösung bis 2020 geben wird - ganz im Sinne der «Open Sky»-Regeln: «Dann könnten Fluggesellschaft en aus der EU und Grossbritannien weiter fliegen wie bisher.» (SDA)